O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Nik Schölzel

Aktuelle Aufführungen

Liebes-Irrtümer

GARTEN DER LÜSTE
(Georg Friedrich Händel)

Besuch am
10. Oktober 2020
(Premiere)

 

Blaue Halle des Mainfrankentheaters Würzburg in der Dürrbachau

Nicht nur Corona, sondern vor allem die Sanierung seines Großen Hauses mit dem daraus folgenden Umzug in die Interimsspielstätte in der Dürrbachau vor den Toren der Stadt, in die Blaue Halle, stellte das Mainfrankentheater Würzburg vor Probleme. Herausgekommen ist ein respektabler Theaterbau samt Foyer und Werkstätten, für alle Sparten, mit ansteigenden Stufen für etwa 500 Zuschauer, erlaubt derzeit 129, dem man innen die ehemalige Fabrikhalle kaum mehr ansieht. Ob das nun alles auch für die Oper funktioniert, war die Frage. Doch schon die erste Premiere beweist: Musiktheater klappt, wenn man sich klug auf die reduzierten Bedingungen einstellt. Das bedeutet: Man befolgt wie fast überall in Deutschland das gängige Rezept, wählt auch wegen der Beschränkungen für das Orchester ein kurzes Stück, etwa eine sinnvoll auf das Wesentliche konzentrierte Barockoper und passt sie an heutige „Lesarten“ an.

So entsteht aus dem 1711/1731 von Händel komponierten Rinaldo  ein Garten der Lüste, eine neue Händeloper, ein von über drei Stunden auf 85 Minuten verkürztes Pasticcio, mit Augenzwinkern und in einer unterhaltsamen Interpretation ohne allzu tiefschürfende Erkenntnisse präsentiert, höchstens, dass äußerlich die Barockzeit ein bisschen ramponiert daher kommt. Das sehr spielfreudige Ensemble der mainfränkischen Bühne macht daraus unter Federführung und Leitung von GMD Enrico Calesso, der auch am Cembalo sitzt und für die komprimierte Fassung der einstigen Londoner Erfolgsoper verantwortlich zeichnet, vor allem ein musikalisches Erlebnis. Die Zuschauer aber erfreuen sich am munteren Spiel um echte, meist aber eingebildete und flüchtige Gefühle wie Liebe, Eifersucht oder Hass. Die eigentliche Lust liegt hier auf Seiten des Genießens der Musik, die Händel als italienische Oper für London geschrieben hat. In Würzburg wird natürlich italienisch gesungen, und auch in der Blauen Halle erschließen Übertitel den Text von Giacomo Rossi. Händels musikalischer Reichtum, seine Arien, Rezitative und Koloratur-Kunststücke betören auch heute noch die Ohren des Publikums. Die Handlung aber nach dem viel bearbeiteten Stoff von Torquato Tassos Dichtung Das befreite Jerusalem kann heute keinen Zuschauer mehr fesseln. Und auch Bühneneffekte, die damals bei der Aufführung im Londoner Haymarket-Theatre den Riesenerfolg noch beflügelten, sind heute nicht mehr nötig, abgesehen von ein wenig Blitz und Donner und geschickter Beleuchtung durch Mariella von Vequel-Westernach. Auschlaggebend sind Musik und Gesang.

Denn die Verwicklungen und Kämpfe der christlichen Partei unter Führung des Generals Goffredo, gefolgt von seinem heldenhaften Ritter Rinaldo samt dessen liebreizender Tochter Almirena gegen die mit Zauberkräften ausgestattete Armida, die Königin von Damaskus, und ihren Getreuen Argante, den König von Jerusalem, muten uns heute seltsam an; auch mythische Gestalten wie die Sirenen und ein christlicher Magier widersetzen sich gegenwärtiger Logik. Deshalb erscheint es legitim, die Handlung zu straffen, alles aus der Distanz einer Parodie auf barockes Geschehen mit Humor zu betrachten; so richtig verstehen kann das verwirrende Hin und Her ohnedies kaum jemand. Nach diesem Prinzip verfährt Regisseur Andreas Wiedermann.

Also sind die auftretenden Figuren teilweise auch Karikaturen ihrer barocken Vorbilder, und sie baden sich in Gefühls-Erregungen, die aber schnell wieder verfliegen. Liebe und Eifersucht sind hier nur Anlässe, um sich selbst emotional zu vergewissern. Aber sie bieten natürlich die Möglichkeit zu wunderbaren musikalischen Ausdrucksformen, wie sie Händel einfielen, und von deren Zauber sich die Zuhörer gerne einfangen lassen. Äußerlich zitiert Ausstatterin Aylin Kaip dieses vergangene, zerfallene Weltbild in ihren prachtvoll ruinösen Kostümen nach: Da bewegen sich die eitlen Damen Almirena und Armida in schon beschädigter, aber als höfisch zeremoniell noch erkennbarer Kleidung; man trägt Perücke, und die Sirenen erscheinen als groteske Garten-Göttinnen, gesteigert in der Wirkung, weil sie gesungen und gespielt werden von zwei Männern, von Mathew Habib und Igor Tsarkov. Der Tausch der Geschlechterrollen war im Barock durchaus üblich. Hier sorgt es für Schmunzeln; eigentlich aber fungieren die zwei unermüdlich als Kulissenschieber. Denn sie müssen ständig die angedeuteten, abstrakten Hecken, Gartentore und Laubengänge dieses Irrgartens verschieben, um neue, verwirrende Auftrittsorte zu schaffen; auch dürfen sie Vögelchen fliegen lassen oder schleppen am Ende Gartengeräte herbei. Der Magier mutiert hier zu einer Art Conférencier, natürlich wiederum von einer Frau mit viel Lust am Spiel dargestellt und bestens gesungen von Barbara Schöller; ganz in Weiß, zeigt diese Figur gleich zu Anfang, dass die Handlung keineswegs ernst zu nehmen ist, wenn  sich die seltsam komische Gestalt bei der Ansage mit einer Art Zeremonialstab auf den Fuß haut. Am Schluss kommt nach einer Explosion eine weitere Aufgabe hinzu: Im Schutzanzug besprüht der Magier die Gewächs-Konstrukte mit einer Lösung, wodurch die dahinter versteckten Personen stöhnen und husten müssen. Jedenfalls endet der Konflikt um allzu viele und unerwiderte Gefühle dadurch, dass die Sirenen Gartengeräte austeilen. So siegt am Schluss die Tugend über der Gefühle Neid – was immer man darunter verstehen mag – und mit der Bekräftigung, dass es Glück auf Erden nur gibt, wenn das Herz ein Ziel hat, entschwindet langsam das grüne Licht, und das Opern-Pasticcio ist zu Ende.

Nachdenken aber muss man darüber nicht unbedingt, besser ist es, die Musik Händels einfach zu genießen. Calesso, der die Rezitative am Cembalo begleitet, sitzt mit seinem verkleinerten Philharmonischen Orchester Würzburg hinter der Bühne, was die Akustik nicht beeinträchtigt. Mit viel Schwung bei den schnellen, aber auch gefühlvoll bei den intensiv wirkenden langsamen Passagen leitet er die Musiker; bei der neckischen Szene mit den Vögelchen dürfen sogar drei hervorragende Flötistinnen ganz in Weiß auf der Bühne die Naturschilderung untermalen.

Das Gesangsensemble aber begeistert nicht nur in seinem Spiel, sondern vor allem in den Arien und Nummern Händels, die er teilweise schon vor London für Italien geschrieben hatte, so die berühmte Sarabande Lascia ch’io pianga der Almirena oder die furiose Arie der Armida vo‘ far guerra; der Komponist hielt übrigens die sanfte Arie des Rinaldo Cara sposa für eine seiner besten, und bei der Bravourarie Venti, turbini werden alle stimmlichen Raffinessen verlangt. Anders als von Händel vorgesehen, gibt es bei der Würzburger Aufführung keine Countertenöre, und auch die Rolle des Eustazio fällt weg. Aber gesanglich ergibt sich nun ein sehr geschlossener, fesselnder Eindruck. Silke Evers ist dabei eine wunderbar lebendig gestaltende Almirena, und ihr leuchtender, stets angenehm klingender Sopran berückt durch alle Facetten des Ausdrucks und lockere Koloraturen. Ihr Liebesobjekt, der Ritter Rinaldo, wird von Marzia Marzo mit eher hellem, beweglichem Mezzo als jugendlicher Held überzeugend dargestellt, während Roberto Ortiz einen älteren Heerführer Goffredo mit sicherem Tenor markieren muss. Als Armida entfaltet Guibee Yang große Zauberkräfte mit ihrem vollen Sopran in starken Höhen, und Hinrich Horn ist dank seiner männlich vollen Stimme ein beeindruckender Argante.

So gilt der lange Beifall vor allem den musikalischen Mitwirkenden, und das Publikum diskutiert nach diesem versöhnlichen Ende ausgiebig über die ungewöhnliche Opern-Aufführung.

Renate Freyeisen