O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Nik Schölzel

Aktuelle Aufführungen

Verlust der Heimat

ANATEVKA
(Joseph Stein, Jerry Bock, Sheldon Harnick)

Besuch am
26. November 2022
(Premiere)

 

Theaterfabrik Blaue Halle des Mainfranken-Theaters Würzburg

Lebendiges, pralles Leben wird ausgelöscht durch eine Militärmacht. Das erzählt die Geschichte des armen Dorfes Anatevka, eines jüdischen Schtetls im damaligen Reich des Zaren, Anfang 1900. All das wird bewegend geschildert im Musical Fiddler on the Roof nach der Erzählung Sholem Aleichems von Joseph Stein, komponiert von Jerry Bock, 1964 uraufgeführt am Broadway in New York, wo es trotz des ernsten Themas Riesenerfolge feierte, später sogar verfilmt wurde.

Ähnlich die packende Wirkung in der Blauen Halle des Mainfranken-Theaters Würzburg. Denn bei der Vorbereitung der Aufführung 2020 war noch nicht der russische Überfall auf die Ukraine 2022 absehbar mit der Vertreibung der Bevölkerung und der Zerstörung ihrer Heimat. Das gewinnt nun traurige Aktualität. Dennoch versetzt die Regie von Tomo Sugao das Geschehen nicht ins aktuelle Heute oder in die Zeit der Pogrome gegen die Juden, als sie zwangsweise durch die „Maigesetze“ des russischen Zaren in einem „Ansiedlungsrayon“ unter elenden Bedingungen zusammengepfercht waren. Alles spielt sich nun ab in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in einem Dorf irgendwo in der Ukraine, hauptsächlich in einer Eckkneipe plus Laden; durch schnelles Verschieben der Wände und rasche Wechsel der Möblierung entstehen so der Wohnraum der Familie des Milchmanns Tevje, ebenso das Schlafzimmer oder die Bahnstation. Oft aber ist im Hintergrund zu erkennen, was zur neuen Heimat der Vertriebenen werden soll: ein typisches Mietshaus auf der Lower East Side in New York in Amerika, nicht gerade einladend. Bühnenbildner Momme Hinrichs zitiert mit seiner Ausstattung die „leeren“, eigentlich trostlosen Bilder von Edward Hopper. Schon am Anfang schwebt über dieser Haus-Kulisse die Schatten-Projektion des Fiddlers als Zeichen vager Hoffnung. Sie vervielfältigt sich am Schluss noch auf dem Vorhang. Die Kostüme von Gisa Kuhn zeigen einmal die Bescheidenheit der armen Leute von Anatevka, zitieren beim Hochzeitsritual auch Folkloristisches, wandeln sich zur warmen Kleidung im Winter, und Frauen tragen da auch Hosen.

Einen grellen, farbigen, wild bewegten Höhepunkt bildet der Albtraum von Tevje und seiner Frau Golde: Gespenster erscheinen, um sie vor der Verheiratung ihrer Tochter mit dem reichen Fleischer zu warnen. Die wüst tobende Geister-Gesellschaft erhält durch schauerliches Äußeres und heftige, wilde Bewegungen der Tänzer der Würzburger Ballett-Compagnie eindrucksvolle Wirkung. Dafür sorgt die geschickt eingesetzte Choreografie von Yo Nakamura, die auch sonst wirbelndes Leben auf der Bühne erzeugt; die scheint manchmal fast überfüllt von den oft skurrilen Einwohnern von Anatevka, von Soldaten, Hochzeitsgästen oder Kneipenbesuchern. Alles dreht sich um die Tradition einer patriarchalisch geprägten Gesellschaft. Deren Protagonist ist der gutmütige Milchmann Tevje, Vater von fünf Töchtern, die er an ihm genehme Männer verheiraten will und soll. Doch die haben einen eigenen Kopf. Die älteste sucht sich einen mittellosen Schneider, die mittlere einen revolutionären Studenten, die jüngste einen christlichen Russen – eine Katastrophe für den Vater. Zu diesen Konflikten kommen noch der ständige Kampf gegen die Armut, die Auseinandersetzung mit der Obrigkeit, repräsentiert durch das russische Militär, schließlich die Vertreibung aus ihrem Paradies Anatevka, das eigentlich keines ist, aber ihre Heimat, wo Familie und Tradition noch etwas gelten. Die Zukunft aber heißt: Verstreut in alle Welt, auseinandergerissen, ist vieles ungewiss, aber nicht ohne Hoffnung.

Die Hauptfigur ist Tevje, der die Milchflaschen auf einer Art Moped ausfährt und so den Kontakt mit allen in der Gemeinde hält; er hadert immer wieder mit Gott, träumt Wenn ich einmal reich wär, wird wegen seiner misslichen wirtschaftlichen Situation oft von melancholischen Stimmungen heimgesucht, resigniert aber nicht. Jörg Sabrowski verkörpert in idealer Weise diesen sympathischen, wohlmeinenden, aber von den strengen Traditionen immer wieder eingeengten Familienvater; bei allen seinen Entscheidungen siegt letztlich die Liebe zu seinen Angehörigen, auch wenn er da über seinen eigenen Schatten springen muss. Und er singt, spricht und spielt dabei völlig überzeugend. Unterstützt wird er von seiner Frau Golde, von Silke Evers als Herrin des Hauses, über Töchter und Sauberkeit äußerst glaubhaft gezeichnet. Sie achtet auf das Wohlverhalten ihrer Töchter; deren Älteste, Zeidel, ist bei Marzia Marzo ein hübsches, gutwilliges, groß gewachsenes Mädchen. Ihr Auserwählter, der arme Schneider Mottel, wird von Mathew Habib als ständig agiler, aber schüchterner, kleiner Mann dargestellt, und als er endlich die Einwilligung zur Heirat von Vater Tevje bekommt, springt er vor Freude seiner Künftigen in die Arme, ein groteskes Bild. Zuvor hat sie sich standhaft geweigert, den verwitweten, reichen Fleischer Lazar Wolf, Herbert Brand, zu ehelichen, einen streitlustigen Saufbold mit Rachegelüsten wegen der Erniedrigung. Angebahnt hatte diese gescheiterte Paar-Beziehung die herrlich redselige, überlegen und elegant auftretende Heiratsvermittlerin Jente, deren Rolle Barbara Schöller wie auf den Leib geschneidert scheint. Anders als ihre Schwester verhält sich Tochter Hodel, bei Akiho Tsujii ein zierliches, selbstbewusstes Persönchen, das sich in den sehr beredten Studenten Perchik, Hinrich Horn, verliebt und ihm, als er wegen seiner revolutionären Ideen ins Straflager in Sibirien verschickt wird, dorthin unbeirrt folgt, voller Mitgefühl verabschiedet von ihrem Vater. Der hat dann aber viel einzuwenden gegen die Wahl seiner dritten Tochter Chava, Martina Dähne; sie verlässt ihr Elternhaus für den sensiblen, belesenen Russen Fedja, Florian Innerebner. Erst am Ende gibt Tevje auch dieser Verbindung seinen Segen. Nicht alle Russen verachten die Juden; der Wachtmeister, Daniel Fiolka, versucht zu vermitteln, doch auch er muss sich den Anweisungen aus St. Petersburg beugen. Immer wieder wird die scheinbare Idylle im jüdischen Zusammenleben durch das plötzliche Auftauchen der Soldaten zerstört.

Die Einwohner von Anatevka, allesamt sehr individuelle, oft auch etwas groteske, aber freundliche Typen, werden mit ihren charakteristischen Eigenschaften als Einzelne bestens verkörpert durch die Mitglieder des Chors, der insgesamt auch, einstudiert durch Sören Eckhoff, ein harmonisches Klangbild abgibt. Der deprimierend grausame, traurige Schluss, die Vertreibung aus der Heimat und der Auszug aus Anatevka, betrifft alle jüdischen Einwohner und erinnert an schlimme Flüchtlingsbewegungen nicht nur in Kriegen oder erzwungene Transporte in die Vernichtung, vorgeführt durch Videos. Trotz dieses tragischen Endes gibt es doch viel zum Schmunzeln und sogar zum Lachen, etwa in witzigen Dialogen oder bei dem Verhalten der oft grotesken Gestalten wie dem Rabbi oder seinem Sohn.

Musikalisch gefällt das sehr gut aufgelegte Philharmonische Orchester Würzburg unter der einfühlsamen Leitung von Carlo Benedetto Cimento, kann mitreißen bei den flüssigen Tanzrhythmen, mit Klezmer-Klängen oder unbeschwert Fröhlichem, betont aber auch Melancholisches bei süßer Melodik oder mäßigem Tempo. Das reizt manchmal das Publikum zum Mitsummen.

Das vollbesetzte, ausverkaufte Haus bei der Premiere jubelt nach über drei Stunden Spieldauer voller ständig sich überschlagender, schnell wechselnder Aktionen und beeindruckenden Bildern laut und lange und möchte die Mitwirkenden gar nicht gehen lassen.

Renate Freyeisen