O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Nik Schölzel

Aktuelle Aufführungen

Im Traumland

ALICE IM WUNDERLAND
(Dominique Dumais)

Besuch am
30. Oktober 2022
(Premiere)

 

Theaterfabrik Blaue Halle des Mainfrankentheaters Würzburg

In eine surreale, sehr bunte, verrückte Traumwelt entführt das Ballett Alice im Wunderland nach Motiven der 1865 erschienenen Erzählung von Lewis Carroll in der Blauen Halle des Mainfrankentheaters Würzburg. Ballettchefin Dominique Dumais hat daraus eine fantastische Tanz-Erzählung ohne Anspruch auf logische Verknüpfung über die Abenteuer eines jungen Mädchens in seiner überbordenden Fantasie kreiert.

Genauso farbenfroh, oft grotesk witzig und wie aus einem Märchenbuch entlehnt sind die originellen Kostüme von Tatyana van Walsum; sie hat auch das Bühnenbild mit seinen vielen überraschenden Veränderungen entworfen, zuerst Natur mit einem idyllischen Wald und Hecken-Versatzstücken davor, die schnell und oft verschoben werden; dahinter erscheint dann eine weiße Wand mit vielen schwer erreichbaren, meist verschlossenen Türen, wohl ein Hinweis auf die bürgerliche Existenz von Menschen. Immer wieder aber wechseln die Schauplätze, formiert sich ein neues Bühnenbild, vielfach atmosphärisch unterstützt vom Lichtdesign von Ingo Jooß, verändern sich die Jahreszeiten, etwa zum Herbst. Alice aber durchläuft staunend und irgendwie mutig diese sie eigentlich verunsichernden Stationen.

Alles beginnt im Garten: Die recht ungebärdige Alice will sich den Erziehungsversuchen ihrer Schwester entziehen und gerät durch ein Loch in der Hecke ins Reich eines weißen, netten, ihr wohlwollenden Hasen. Bei der folgenden Tour durch die verschiedensten irrealen Traumbereiche begegnet sie drei „Grazien“, etwas langweiligen Gestalten in antiker Aufmachung, die ihr Vorschriften machen wollen; die Choreografin Dumais sieht in ihnen Symbole für die drei Tugenden Weisheit, Tapferkeit und Besonnenheit; nach einigem Hin und Her kann Alice dann doch die Tür zu weiteren Erkundungen zu ihrem Wunderland öffnen. Sie bewegt sich weiter, erhält eine Puppe, ihr verkleinertes Ebenbild, kann aber auch selbst in übergroßer Gestalt auftreten. Eine Art rotierende Spirale verunsichert sie später nur kurz, und aus einem Tränensee, angedeutet mit weißen Tüchern, kann sie sich befreien. Sie ist nicht aufzuhalten, trifft im Wald das lustige, schottisch karierte Duo Tweedle Dee und Tweedle Dum, ebenso einen freundlichen Fliegenpilz samt dem geschmeidigen Raupengetier, das sich verpuppt und als Schmetterling im Wald davonflattert.

Ein geheimnisvoller Brief lädt Alice zu einer mysteriösen Teegesellschaft ein. Ab und zu schrumpft und wächst sie, dann aber gelangt sie in einen Raum mit einer verrückten Köchin, die mit Küchengerät und Tellern um sich wirft, einer seltsamen Herzogin mit Bart und Pique-Dame-Motiven auf dem Kleid und einem Baby, das nach wildem Gerangel als Ferkel im Kochtopf landet. Die Einladung zur Tea-Party bei einem Hutmacher mit Ähnlichkeit zu Marlene Dietrich, einem Märzhasen und der Siebenschläfermaus, alle in karierter Aufmachung, endet in einem Getümmel; eine undurchsichtige Grinsekatze und das Weiße Kaninchen stehen Alice zur Seite, bis sie ins Reich der machtbewussten Herz-Königin und des Herz-Königs kommt; alle geraten in wilden Streit um die Vorherrschaft. Alice gibt nicht auf, stellt sich auf die Seite der Katze und tritt der Königin entgegen. Schließlich huldigen alle Figuren in diesem wunderlichen Wunderland Alice dadurch, dass sie wie diese im blauen Tutu auftreten und sie hochheben. Alice kommt irgendwie geläutert und erwachsener nach diesen Träumen wieder im Garten bei ihrer Schwester an.

Bewundernswert in diesem „Wunderland“ ist die bravouröse Leistung von Debora Di Biagi als Alice. Fast zwei Stunden lang ist sie durchgängig auf der Bühne präsent, fasziniert durch ausdrucksstarke Gestaltung bis in die Fingerspitzen, durch flinke, geschmeidige Beweglichkeit, durch berührende Ausstrahlung als neugieriges, etwas naives, stets sympathisches Mädchen. Ihr Gefährte, das Weiße Kaninchen, Matisse Maitland, imponiert durch schnelle Drehungen und hohe Sprünge, und die Grinsekatze, Mirko Ingrao, begleitet Alice fast etwas aufdringlich. Die freundliche Raupe Yester Mulens Garcia wirkt nie bedrohlich, wenn sie sich um den Fliegenpilz windet. Als Köchin wütet Maya Tenzer voller Spaß, und Laura Sophie Heise ist eine elegant-zarte Schwester. Die beiden Tweedles, Alba Valenciano López und Marcel Casablanca, belustigen durch ihr lockeres Auftreten, und Riccardo Battaglia als Verrückter Hutmacher sowie Carl Hughes als Märzhase unterstreichen den Nonsens in übertrieben grotesken Aktionen. Mit solchen Übersteigerungen in Haltung und Bewegung irritieren die seltsame Herzogin, Tyrel Larson, und die etwas aggressiv wirkende Königin, Venetia Lim Jia Yee.

Das zwölfköpfige Ensemble, auch in Doppelrollen eingesetzt, zeigt viel Einsatz in den verschiedenen Charakterstudien, bemerkenswerte Schnelligkeit beim Wechsel der Szenen und überraschende Tanzfiguren. Auch wenn einige Szenen noch Kürzungen vertragen können, läuft doch das bunte Geschehen Schlag auf Schlag ab zu den fein und differenziert illustrierenden bis passend psychodelischen Klängen auf klassischen und modernen Instrumenten von Peter Hinz; der Komponist hat die Musik in Zusammenarbeit mit der Choreografin entworfen, unterstützt so das Bühnengeschehen und die wechselnde Stimmung, und darf auch mal mitspielen oder etwas singen. Dieses Wunderland erheitert alle.

Das vorwiegend jugendliche Premierenpublikum im nahezu voll besetzten Saal bejubelt lange begeistert alle Mitwirkenden.

Renate Freyeisen