O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Aktuelle Aufführungen

Belcanto im Luftbad

LA SCALA DI SETA
(Gioacchino Rossini)

Besuch am
22. Juli 2021
(Premiere am 9. Juli 2021)

 

Luft- und Sonnenbad, Bad Wildbad

Wildbad 2021 ist nicht das Jahr eins des Rossini-Festivals nach einer weitgehend erreichten Überwindung der Corona-Pandemie. Wildbad ‘21 ist eher das Jahr eins eines noch von Corona geprägten Intermezzos des Belcanto-Opera-Festivals, dessen Zeitdauer derzeit kein Virologe vorherzusehen vermag. „Im zweiten Sommer der Corona-Pandemie“, lautet die Einschätzung von Intendant Jochen Schönleber, „sind wir gewiss noch weit von der alten Normalität entfernt.“ Die Hauptaufgabe für das einmal mehr äußerst engagierte Team um Antonio Fogliani, den musikalischen Leiter, Reto Müller, den Rossini-Experten und wissenschaftlichen Berater, sowie Anna Plummer, Leiterin Organisation: „sichere, luftige und kommunikativ geeignete“ Schauplätze für die vier Opern und diversen Konzerte des Festivalprogramms zu finden und für ihre atypische Inanspruchnahme einzurichten.

Unter dem Eindruck der dritten von drei Aufführungen des Buffa-Einakters La scala di seta, 1812 vom gerade 20-jährigen Komponisten für das Teatro San Moisè in Venedig geschrieben, darf dieses Experiment punktuell als durchaus gelungen angesehen werden. Die mehr als warmen Temperaturen eines freundlichen Sommerabends im Nordschwarzwald ersticken die noch bei der Premiere am 9. Juli durchgespielte Regen-Alternative Offene Halle Marienruhe von vornherein im Keim. Die Farsa comica geht im sogenannten Luft- und Sonnenbad, zehn flotte Gehminuten vom Kurtheater, halbwegs in der Höhe gelegen, als „sichere und luftige“ Aufführung open air über die Bühne.

Was heißt in Wildbad ‘21 allerdings schon Bühne? Die köstliche, dabei leicht frivole, von allerlei Voyeurismen durchzogene Gesellschaftskomödie nach dem Libretto von Guiseppe Foppa spielt auf einer überdachten Balustrade vor dem Trakt von seriell aufgereihten Umkleidekabinen. Die befinden sich in einer heruntergekommenen, einst herrschaftlichen Badeanstalt ohne Schwimmbad und Sprungturm. Sie sind ein Bestandteil der denkmalgeschützten Villa Rosa von 1870 im Kurpark, die eines potenten Investors harrt. Stefania Bonfadelli, die Regisseurin und frühere Koloratursopranistin, macht bei ihrer zweiten Inszenierung nach Matilde di Shabran 2019 für Rossini in Wildbad das Beste aus der heiklen Location, was freilich relativ zu verstehen ist.

Das Haus des Vormunds Dormont, der für sein Mündel Giulia als Heiratskandidaten den standesgemäßen Blansac auserwählt hat, wandelt sich bei Bonfadelli in eine Baustelle. Ein naheliegender Einfall angesichts der speziellen Umstände. Die Protagonisten bewegen sich wie Dorvil, der heimliche Ehemann Giulias, im Blaumann und wie Germano, der Diener Dormonts, mit Schutzhelm und Frontlampe. Über die Szene verstreut sind allerlei Werkzeuge und Bauutensilien. Pinsel, Kartons und Eimer voller Farbe, in denen die Liebestollen schon mal steckenbleiben, was – Stichwort Situationskomik – Erheiterung im Publikum auslöst. Um seine Bautruppe besser anzutreiben, lässt Dormont sich von Lucilla, der Cousine Giulias, im Rollstuhl durch die Baustelle schieben. Dann und wann hilft ihm eine Trillerpfeife bei der Durchsetzung seiner Bauvorgaben. Die Titel gebende Leiter ist aus Holz, weiß angestrichen. So wird der Abend auch ein Festival für Baumarkt-Freaks. Über die Leiter lässt Giulia Dorvil in ihre erotische Nähe, später auch Blansac, den sie mit ihrer Cousine verkuppeln möchte.

Unter einer Farsa ist eine spezielle italienische Variante der Komödie zu verstehen, die ihrem Publikum einen zauberhaften Spaß bereitet, ohne ihre Protagonisten vorzuführen. In der Oper vor und nach 1800 hilft die Variante der Opera buffa ohne Chor jungen Komponisten, den Impresarios ihr Talent zu beweisen. Der an seinem Durchbruch arbeitende Rossini ist von ihr so angetan, dass er allein fünf davon schreibt. Vor Tancredi, seiner ersten erfolgreichen Opera seria von 1813. La scala di seta – die seidene Leiter – kommt nach einigen Verwirrungen um den Wunschlibrettisten dem Belcanto-Genie insofern besonders entgegen, als das Libretto dem Text der Komischen Oper von Eugène Planards L’échelle de soie folgt, die 1808 in Paris erfolgreich aufgeführt wird. Also schon genreimmanent ist.

Die Vorlage Foppas und Rossinis ist für jeden komödiantisch gesonnenen Regisseur ein Festschmaus. Angesichts der lokalen Umstände hat sich Bonfadelli vorgenommen, die Geschichte um eine junge Waise, die mit Intelligenz und Witz die Interessen der Frauen in diesem Stück durchsetzt, auf die einmal gewählte Szenerie herunter zu dimmen. Das geht auch im Prinzip auf, weil die Regisseurin, quasi „vom Fach“, es mit viel Geschick versteht, ihr Personal einfühlsam auf Rolle und Situation hin zu inszenieren.

Schlüssig ist das indes zur Gänze nicht. So bleibt – pars pro toto – unklar, warum der Hausherr gegen Ende der Irrungen und Wirrungen mit einer Pistole herumfuchtelt, aus der sich dann auch noch ein Schuss löst. Die sich sehr rasch wiederholenden ständigen Einfälle auf der und um die Baustelle laufen im Übrigen nur deswegen nicht leer, weil die Farsa schon nach gut 80 Minuten – die Pause nicht mitgerechnet – in ein brodelndes Durcheinander und danach in ein Lieto fine mündet. Ein Ensemblestück, das das Komponistengenie in spe offenbart. Gleich zweimal Heiratsglück. Und noch das Glück der Musik obendrauf.

Wer sich unter Corona-Bedingungen die Probenarbeit vorzustellen vermag, kann dem adäquat gecasteten Sängerensemble nur eine famose Gesamtleistung bescheinigen. Dabei erschweren es die besonderen Bedingungen dieser Open-air-Aufführung an der Enz prinzipiell, im Urteil der einzelnen Parts allzu differenziert vorzugehen. Gleichwohl: Michele Angelini avanciert als Dorvil mit seinem markanten, höhensicheren und silbrig-verführerischen Tenor zur Stimme des Abends. Angelini muss zwar bis zur dritten Szene auf seinen Einsatz warten. Mit seiner Kantilene Vedrò al sommo incanto überzeugt er jedoch spontan das Publikum, das mit Szenenapplaus reagiert.

Claudia Urru ist eine virtuose Giulia mit fein geflochtenen Koloraturen und jeder Menge Spielwitz. Ihr Auftritt im Duett Io so ch´hai buon core mit Emmanuel Franco als Faktotum Germano zeigt sie – und Rossini – in Bestform. Ist Franco als die leicht tölpelige Figur, die das Geschehen vorantreibt, auf der Bühne allein, neigt er allerdings zu einer gehörigen Poltrigkeit. Den Blansac gibt Eugenio Di Lieto mit noblem Bass und beherrschten Paraphrasen. Remy Burnens als Dormont zieht mit tenoraler Vehemenz die Fäden. Die blutjunge, temperamentvolle Meagan Sill als Lucilla lässt in ihrer Soloarie Sento talor nell´ánima mit präzise geführter, frischheller Sopranstimme aufhorchen. Ihre etwas überdreht wirkenden Tanzposen mögen der Rolle geschuldet sein, nicht aber ihrer Tanzausbildung, die sie absolviert hat.

Das Philharmonische Orchester Krakau, unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs gegründet, weist eine imponierende Aufführungspraxis von Werken des Barock bis hin zur zeitgenössischen Musik auf. Mit Blick auf die Verhältnisse im Luft- und Sonnenbad stellt sich ebenfalls die Frage, ob die engagierte Leistung der überwiegend jungen Musiker angemessen eingeschätzt werden kann. Etwa dann, wenn der Besucher in der ersten oder zweiten Reihe direkt hinter dem Dirigenten sitzt und allenfalls einen Ausschnitt der musikalischen Performance aufnehmen kann. Jedenfalls finden sie unter der musikalischen Leitung von José Miguel Pérez Sierra zu einer beachtlichen Rossini-Form, auch bei dann allmählich mit der Sonne sinkenden Temperaturen.

Das Publikum ist spürbar froh, Wildbad 21 in einem prächtigen Ausschnitt erfahren zu haben. Es dankt mit anhaltendem wie anerkennendem Beifall. Auch zuvor ist hier und da ein Klatschen von Händen zu vernehmen, das freilich nicht unbedingt der Kunst, sondern Mücken gilt, deren man sich erwehrt. Nun ist der Applaus einhellig und allein dem erlebten Opernglück vorbehalten. Und seinen trefflichen Akteuren.

Ralf Siepmann