O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Michael Pöhn

Aktuelle Aufführungen

Abgründig und spannend

DAS VERRATENE MEER
(Hans Werner Henze)

Gesehen am
28. Dezember 2020
(Premiere/Livestream am 17. Dezember 2020)

 

Wiener Staatsoper

Er selbst hielt sie für seine stärkste Oper, auch wenn sie bei der Uraufführung 1990 in Berlin durchfiel. Aber Hans Werner Henze, der von 1926 bis 2012 lebte, ließ nicht locker, überarbeitete sein „Schmerzenskind“, ließ das Libretto wieder zurück ins Japanische übersetzen und das Werk 2003 in Tokio nochmals konzertant aufführen. Damals hieß das Werk noch Gogo No Eiko – Der Seemann, der die See verriet. Für die Salzburger Festspiele 2006 hat der deutsche Komponist die Oper nochmals überarbeitet und rund eine halbe Stunde neue Musik hinzugefügt. Jetzt wird das eher selten aufgeführte Musikdrama Das verratene Meer an der Wiener Staatsoper erstmalig aufgeführt. Es soll die erste, echte und neue Premiere der neuen Direktion Bogdan Roscic werden. Denn die bisher gezeigten „Premieren“ waren alle schon irgendwo zu sehen. Aber Covid 19 macht einmal mehr der geplanten Unternehmung einen Strich durch die Rechnung und die Premiere findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, wird aber live österreichischen Fernsehen übertragen. Wieder ist nur eine Handvoll auserwählter Journalisten zugelassen.

Die Geschichte, die auf einem Roman des ebenso verehrten wie auch umstrittenen Schriftstellers Yukio Mishima, dem Meister literarischer Gewaltexzesse, beruht, wurde vom Librettisten Hans-Ulrich Trekel umgestaltet und die Brutalität so mancher Szenen gemildert. Es geht um eine brutale Jugendbande in Yokohama, der sich der dreizehnjährige, fiebrig pubertierende Noboru gegen den Willen seiner Mutter anschließt. Die hat nach mehrjährigem Witwendasein einen Seemann kennengelernt und will ihn heiraten. Die Gefühlskälte und Gewaltbereitschaft der Gang sind jedoch so groß, dass sie bis zum kaltblütigen Mord führen. Der banale Grund ist, dass der Seemann aus Liebe zur Mutter dem Meer und seinem Beruf entsagen will.

Foto © Michael Pöhn

In der neuesten Fassung packt Das verratene Meer mit den markanten Schlagwerkrhythmen, den grandiosen Bläsersätzen, den sanft dissonierenden, langen Zwischenspielen, den weiten Melodien und der opulent-romantischen Klangsprache insgesamt. Vor allem wenn sie derart bildhaft-effektvoll, nuancenreich und aufregend musiziert werden, wie vom insgesamt exzellent spielenden, riesig besetzten Orchester der Wiener Staatsoper unter der Dirigentin Simone Young.

Von dem gut singenden Ensemble gefallen vor allem Vera-Lotte Boecker, die schon bei Henzes Bassariden bei den Salzburger Festspielen 2018 sehr positiv auffiel, als klar und rein singende Mutter Fusako, die auch zweimal im Kimono zu sehen ist. Weiters beeindruckt der Spezialist für Zeitgenössisches und immer großartig agierende Singschauspieler Bo Skovhus als gutmütiger Schiffsoffizier Ryuji mit raumgreifendem, präsentem Einsatz. Joss Lovell ist der getriebene Sohn Noboru, singt ihn mit schneidendem, jugendlichem Tenor und spielt mit viel Wut-Potenzial. Als Chef der Jugendbande gefällt Erik Van Heyningen besonders. Kangmin Justin Kim, Stefan Astakhov sowie Martin Häßler runden ideal singend die Gang ab.

Trostlos und düster ist die praktikable Einheitsszenerie von Anna Viehbröck, die auch für die Kostüme verantwortlich zeichnet: Ein betonartiger, grauer Einheitsraum, der sich geschickt in ein Schiff, einen Hafen, ein Zimmer oder eine Boutique verwandeln kann. Die seit Jahren eingespielten Regisseure Jossi Wieler und Sergio Morabito, letzteren hat Roscic als Chefdramaturgen an die Staatsoper geholt, zeigen mit einfachen Mitteln ein Kammerspiel der zerrissenen Seelen. Sie sind Könner der individuellen Personenführung und sparen weder mit Gewalt noch mit Erotik.

Live wird das Stück erst voraussichtlich im September 2021 zu erleben sein, und da sollte es dann doch den verdienten Applaus geben.

Helmut Christian Mayer