O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Aktuelle Aufführungen

In den Fängen der Gezeiten

PETER GRIMES
(Benjamin Britten)

Besuch am
16. Oktober 2021
(Premiere)

 

Theater an der Wien

Das Leben an der ostenglischen Küste ist geprägt durch die Gezeiten. Mit der Unausweichlichkeit einer vergleichbaren Naturgewalt prägt sich zugleich in einem Dorf die Welt der Bigotterie und scheinheilig-religiösen Moral aus. Der Fischer Peter Grimes ist Außenseiter. Die Lehrerin Ellen Orford und Peter wollen heiraten, kommen sich jedoch nicht näher. Der ehemalige Kapitän Balstrode scheint Peter als einziger von den Dorfbewohnern vertrauter, die Männer entzweien sich jedoch.

Zweimal bereits ist ein Lehrjunge bei Peter unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen. Trotzdem wird ihm John, ein neuer Junge aus dem Waisenhaus, von den Dorfbewohnern vermittelt. Als diese dann aber – aufgeheizt durch Gerüchte – Grimes‘ Hütte inspizieren wollen, drängt er den Jungen hinaus, um mit ihm auf sein Boot zu gelangen. Der Junge stürzt mit einem Schrei die Klippen hinab.

Als Peter und John längere Zeit nicht gesehen werden, rückt die Dorfgemeinschaft erneut an. Balstrode rät ihm, mit seinem Boot aufs Meer zu fahren. Das Boot sinkt. Die Dorfgemeinde ist erleichtert, das Leben kann in Ruhe weitergehen.

Soweit der Handlungsverlauf zur Zeit der Uraufführung 1945. Die Konnotation zur Homosexualität ist allgewärtig und – vor allem – in der Musik zu hören, wird aber nicht direkt ausgesprochen. Andernfalls wäre die Oper damals wohl nicht zur Aufführung gekommen.

Regisseur Christoph Loy arbeitet in der Wiedererarbeitung einer bereits im Jahr 2015 für das Theater an der Wien kreierten Produktion nun aber mit eindeutigen Bildern.

Im Dorf gibt es die Seaboys, die Peter neugierig betrachten. Sieht Peter sie? Sieht er sie noch nicht? Er wendet seinen Blick mit schmerzhafter Angestrengtheit in eine andere Richtung. Der Junge John ist kein hilfloses Opfer. Er weiß mit den Empfindungen homosexueller Männer umzugehen. Er kommt Peter nahe, macht sich über Ellen lustig und verführt Balstrode. Den Moment der sexuellen Begegnung zwischen den Männern muss Peter durch Zufall ansehen und als schmerzlichen, doppelten Verrat empfinden. Das erklärt den Streit zwischen Peter und Balstrode ganz anders.

Körperliche Berührung und Zärtlichkeit zwischen Peter und John scheint gar nicht mehr denkbar. Als Peter sich nach dem Sturz des Jungen von den Klippen in Trauer – zum fünften Orchester-Zwischenspiel Mondlicht – neben den toten Körper Johns legt, und dieser – scheinbar –  doch lebt, ereignet sich für Peter ein ekstatischer, verinnerlichter Liebesakt zwischen den beiden Männern. John entschwindet alsbald aus dieser Zwischenwelt. Für Peter ist die Rückkehr in die Dorfgemeinschaft verwehrt. Er folgt einer anderen Freiheit und dem Jungen in die transzendente Weite der Gezeiten. Balstrodes Rat zu fliehen, wird von diesem nur gesprochen, er ist hier gänzlich überflüssig. Einstweilen nimmt das Dorf sein nächstes Opfer in Augenschein: Balstrode.

Benjamin Britten hat den Stoff am Fluchtpunkt USA in Sehnsucht nach seiner Heimat, der englischen Grafschaft Suffolk, entdeckt. Die Textvorlage The Borough von George Crabbe aus dem Jahr 1810 und das Libretto von Montagu Slater formt Britten zu seiner ersten Oper.  Lebenslang bestimmen die Thematiken Homosexualität und Nonkonformität sein produktives Schaffen. Der Kreis schließt sich 1976 mit seinem letzten Werk für die Bühne, Tod in Venedig, wenn Aschenbach dem Jungen Tadzio folgt.

Die Bühne von Johannes Leiacker ist ein stark geneigter, schwarzer und karger Kasten mit einigen wenigen Stühlen, die manchmal durch den Sturm zu einem Knäuel aufgetürmt sind. Fast in den Orchestergraben hinein neigt sich ein einzelnes Bett. In den Kostümen von Judith Weihrauch, der Lichtregie von Bernd Purkrabek, und ganz maßgeblich der Choreografie von Thomas Wilhelm brilliert ein Sängerensemble der Spitzenklasse.

Eric Cutler ist Peter Grimes. Die strahlende Tenorstimme, die jungenhafte, unschuldige Geste in Stimme und Spiel geben der Reinheit und Tragik der Titelfigur tiefen charakterlichen Ausdruck. Agneta Eichenholz als Ellen Orford und Andrew Foster-Williams als Balstrode sind seine mitfühlenden Weggefährten, die gleichwohl Peters Schicksal nicht wenden können. Miriam Kutrowatz und Valentina Patraeva als Mitglieder des Jungen Ensembles des Theaters an der Wien statten die fragwürdigen jungen Nichten der Kneipenwirtin mit quicklebendigem Gesang, Spielfreude und einem guten Schuss Selbstironie aus.  Hanna Schwarz als Kneipenwirtin Auntie und Rosalind Plowright als Mrs. Sedley bringen beide als erfahrene Protagonistinnen der Oper ihre jeweils sehr eigenständigen Rollenporträts ein.    Die weiteren Ensemblemitglieder sind ebenfalls luxuriös besetzt: der bigotte Methodist Bob Boles von Rupert Charlesworth, Rechtsanwalt Swallow mit Thomas Faulkner, der Apotheker Ned Keene mit Edwin Crossley-Mercer und Fuhrmann Hobson mit Lukas Jakobski.

Der Arnold-Schönberg-Chor unter Leitung von Erwin Ortner beweist erneut seine souveräne, bravouröse Beherrschung der stimmlichen Partien und eine ganz eigene, charaktervolle Einbringung bei der darstellerischen Umsetzung der durch die See geprägten und den Sturm geschüttelten Bewohner Suffolks.

Das Radio-Symphonieorchester Wien unter der Leitung von Thomas Guggeis übertrifft sich selbst in Durchhörbarkeit, Klangbalance und Präzision der anspruchsvollen Partitur. Die Dynamik des Spiels bringt nicht nur die Orchestermitglieder, sondern gleich auch das Auditorium vor lauter Innenspannung während der gesamten Aufführung an die Stuhlkante.

Die emotionale Wucht im Zusammenspiel von Orchester, Chor, Sängern auf der Bühne und im Graben in musikalischer Präzision und Brillanz, Choreografie und Personenführung ist nicht in Worte zu fassen. Der Perfektionsgrad muss auch damit zusammenhängen, dass ein Großteil der Beteiligten bereits an der Produktion 2015 mitgewirkt hat und auf dem ohnehin schon hohen Niveau der damaligen Umsetzung aufsetzen kann.

Die Publikumsreaktion ist entsprechend: Jubel und Bravos für das gesamte Team, standing ovations für Eric Cutler und das Radio-Symphonieorchester mit Thomas Guggeis.

Die österreichische Erstaufführung von Peter Grimes fand erst spät, 1997 in der Wiener Staatsoper statt – 52 Jahre nach der Uraufführung in London. Dafür aber zeigt das Theater an der Wien jetzt eine fulminante, zeitgemäße Umsetzung des Werkes, die nicht zu toppen ist.

Achim Dombrowski