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Aktuelle Aufführungen

Die Garde tanzt

ERÖFFNUNG TANZ NRW 21
(Diverse Choreografen)

Gesehen am
28. April 2021
(Video on Demand)

 

Tanz NRW, Festhalle Viersen

Alle zwei Jahre findet Tanz NRW statt, ein Festival, bei dem Tänzer aus Nordrhein-Westfalen in neun Städten des Bundeslandes auftreten. Der Reigen soll auch in diesem Jahr stattfinden, aus bekannten Gründen zum ersten Mal als Online-Version. Um technisch auf der sicheren Seite zu sein, werden nahezu alle Beiträge des Festivals über die Plattform Dringeblieben übertragen. Für die „interaktiven und inklusiven Formate“ muss man sich dann allerdings doch gesondert anmelden. Die gibt es am Eröffnungstag nicht, und so kann man sich schon ab 18 Uhr auf einen Tanzabend freuen. Theoretisch.

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Die Eröffnung findet an diesem Mittwoch in Viersen statt. Die kleinste der teilnehmenden Städte freut sich darüber, wird Bürgermeisterin Sabine Anemüller später aus der Festhalle der Stadt verkünden. Zuvor werden aber, warum auch immer, zwei Werke gezeigt. Den Anfang macht die Premiere Die ultimativ positive, performativ installative, relativ alternative Schöpfung von Hartmannmueller. Sie wird live aus dem Foyer der Städtischen Galerie übertragen und zeigt eindrucksvoll, wie man Theater im Internet gestalten kann. Was die Aufführung mit Tanz zu tun hat, erschließt sich nicht. Aber der Besucher hat ausreichend Gelegenheit, darüber nachzudenken, denn dieser erste Auftritt dauert etwa eine Viertelstunde – und bis zum nächsten Film bleibt eine knappe Dreiviertelstunde. Von der Kunsthochschule für Medien Köln kommt Flounce into Flounce, eine Choreografie von Seongmin Yuk. Flounce bedeutet im Englischen so viel wie Stolzieren, man könnte es also vielleicht als Herumstolzieren übersetzen. Passen würde es zu dem Stück, bei dem Anastasia Kapanadze, Beomseok Jeong, Igor Sousa und Miriam Rick zur Choreografie von Maria Mercedes Flores Mujica hinter einem halbtransparenten Vorhang herumhuschen. Die Idee der geisterhaften Schemen erschöpft sich recht schnell, macht aber nichts, weil der Film nach einer Viertelstunde beendet ist. Es bleibt also eine weitere Dreiviertelstunde für Hausarbeit, ehe die Begrüßungsansprachen von Isabel Pfeiffer-Poensgen, Landesministerin für Kultur und Wissenschaft, und Anemüller beginnen. Dass der solchermaßen in die Länge gezogene Abend nicht unbedingt dafür sorgt, dass Besucher bei der Stange bleiben, dürfte klar sein. Immerhin funktioniert dann der reibungslose Übergang zur Hauptaufführung des Abends einwandfrei.

Unter dem Titel Witness – Zeuge – hatte die Choreografin Reut Shemesh vor fast zwei Jahren im Foyer des Düsseldorfer Kunstpalastes ein work in progress ihrer neuen Arbeit gezeigt – O-Ton berichtete. Jetzt also ist daraus ein neues Stück entstanden, das den Titel Cobra blonde trägt. Shemeshs Arbeit ist geprägt von der Dekonstruktion von Traditionen und Ritualen. In Cobra blonde hat sie nichts weiter als den rheinischen Karneval aufgespießt. Da ist es schon besser, wenn man sich mit seiner Aufführung nach Viersen zurückzieht. Nein, Tänzerinnen und Choreografin sind nicht in Gefahr, denn der Rheinländer ist tolerant und weltoffen. Und im Verlauf wird sich zeigen, dass der Karneval auch nach dieser Aufführung weiterexistieren kann.

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Der Clou ist, dass elf Tänzerinnen der Tanzgarde der Karnevalsfreunde der katholischen Jugend Düsseldorf ihr Hobby mit dem zeitgenössischen Tanz konfrontieren. Garde-Tänzerin im Karneval zu sein, erfordert ein Höchstmaß an Gruppendisziplin und Unterordnung. Selbst die Tanzmariechen, also die Solistinnen einer Kompanie, finden in einer Tanzgarde kaum Platz, ihre Kunst individuell auszuleben, sondern ordnen ihren Tanz strikt der Gesamtchoreografie unter. Und so beginnt die Live-Übertragung auch mit einem martialischen Einmarsch in die Festhalle. Da knallen die Stiefel auf dem Parkett, und die Arme fliegen im Gleichmaß in die Höhe. Die Verkleidung duldet keine Individualität. Neben den teuren Uniformen, die die Tänzerinnen selbst zahlen müssen, tragen sie blondgezopfte Perücken, das Gesicht ist gleichermaßen braun eingefärbt und selbst der knallrote Lippenstift ist für alle gleich. Shemesh und ihr Team haben die Zeit gut genutzt, um aus der etwas holzschnittartigen Grundidee eine geschliffene Aufführung zu entwickeln. So bekommen die Tänzerinnen jetzt auch mehr Gelegenheit, ihre sportlichen Spitzenleistungen vom Formationstanz bis zum eingesprungenen Spagat zu zeigen. Den Grundgedanken, den Drill zu zeigen, hat Shemesh zugunsten der persönlichen Entfaltung verschoben und dem Stück damit viel Schärfe genommen.

Zwar bleiben auch jetzt die marschierenden Stiefel die Hauptgeräuschquelle, die aber wesentlich häufiger durchbrochen wird von kurzen stillen Momenten und der Musik, die Simon Bauer in einem wilden Mix aus zeitgenössischer Musik, Karnevalsschlagern und Liebesliedern vergangener Zeiten zusammengestellt hat. Gab es vor zwei Jahren die erste Hälfte der Aufführungsidee zu sehen, zeigt der zweite Teil die eigentliche Dekonstruktion. Das Spiel mit den Perücken ist weiter ausgearbeitet, wird zu einer Demaskierung. Die Tänzerinnen werden vorgestellt und zeigen individuelle Merkmale, etwa, wenn die Perücken oder Kostümteile abgelegt werden. Da werden die Garde-Tänzerinnen zu Menschen, verlieren die einstigen Marketenderinnen ihre Uniformität – die ihren Zuschauern bei Karnevalssitzungen so viel Vergnügen bereitet. Und auch wenn die Damen deutlichen Spielspaß bei ihrer Aufführung zeigen, scheint doch gewiss, dass sie im Karneval auch weiterhin mit Feuereifer als geschlossene Gruppe einheitlich auftreten werden. Wenn sie es denn wieder dürfen. Bis dahin werden sie vermutlich noch einige Male als Cobra blonde in Shemeshs bislang eindrucksvollster Arbeit erscheinen.

Der Auftritt der Karnevalistinnen macht den Eröffnungsabend zu einem würdigen Ereignis, obwohl vom Festival-Gedanken bislang noch kein Hauch zu spüren ist. Unsinnige Pausen sind in der weiteren Programmplanung kaum auszumachen, stattdessen gibt es bis zum 9. Mai die Crème de la crème der nordrhein-westfälischen Tanzlandschaft zu sehen. Lange genug hat man darauf warten müssen.

Michael S. Zerban