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Alptraumhafte Verstrickungen

DIE GEMÜTLICHE WAHRHEIT
(Johannes Blattner)

Gesehen am
27. März 2021
(Premiere/Live-Stream)

 

Multipluralwesen, Theaterhaus Stuttgart

Wahrheiten, sind wir ehrlich, sind meist ungemütlich. Das lehrt das Leben. Und auch die Wahrheit zu diesem Abend wird nicht so wahnsinnig gemütlich. Dabei hat sich die Compagnie Multipluralwesen aus Stuttgart wirklich alle Mühe gegeben, ihr neuestes Stück Die gemütliche Wahrheit zu einem digitalen Erfolg zu führen. Obwohl Multipluralwesen sich auf die Fahnen geschrieben hat, auf digitalen Bühnen gleichermaßen anwesend zu sein wie auf analogen, scheitert es schon an der eigenen Website. Erst die Recherche auf anderen Seiten ergibt, dass es sich bei Multipluralwesen um eine interdisziplinäre Compagnie handelt, an deren Spitze der Tänzer und Choreograf Johannes Blattner und die Puppenspielerin Hanna Malhas stehen.

Dabei ist der Aufwand, den sie für das neue Stück betreiben, ziemlich eindrucksvoll. Wer die Website Multipluralwesen aufruft, landet direkt in einem Videobereich. Die Programmierer verweisen nicht auf YouTube, sondern schieben eine Ebene dazwischen. Wenn man den Teddybären gesehen hat, funktioniert das Video, erfährt man nach Willkommensgrüßen. Funktioniert. Wenn man das Bienengesumm gehört hat, funktionieren auch die Lautsprecher. Also funktionieren sie offenbar nicht, und schon ist der Besucher damit beschäftigt, nach den Ursachen zu suchen. Vergeblich. Es gibt keinen Zugriff auf die Einstellungen des Live-Streams. Höchst ärgerlich. Wenn die Übertragung nach vielen Minuten beginnt, stellt sich heraus, dass die akustische Versorgung hervorragend funktioniert. Solche witzigen Einfälle sind in Zeiten, in denen die Bilder stocken und die Heimgeräte höchst durchschnittlich arbeiten, weniger komisch. Alsbald zeigen die Künstler, dass längst möglich ist, was man so noch nicht gesehen hat. Auf dem Bildschirm tauchen nach einem tänzerischen Intro Fragen auf, die man mit einem einfachen Klick im Video beantworten kann. Da hat sich also jemand ganz intensiv mit dem Thema Internet befasst und eine Programmierlösung gefunden, die das ermöglicht. Chapeau! Die direkte Dialogfunktion im Video ist eröffnet. Dass sie sich in Fragen erschöpft, deren Antworten anschließend als Grafik dargestellt werden, ist fantastisch, aber in der Umsetzung eher langweilig. Später können die Besucher sogar Freitext im Video eingeben. Von den Ergebnissen erfährt er allerdings nichts. Aber das geht in Ordnung, wenn wir an das erste Telegramm, das erste Telefonat oder die erste E-Mail denken. Ermüdend ist, dass für die Antworten eine unglaubliche Zeitspanne eingeräumt wird. Ruckelnde Videos sind dagegen ein echtes Freizeit-Vergnügen. Während sich die Besucher an das ungewöhnliche Angebot gewöhnen, räkeln sich die Tänzerinnen in Schlafanzügen auf der Bühne und lassen sich von einer Dame auf der Projektionsfläche davon überzeugen, dass Blumen in ihr Apartment gehören. Ein unvermittelt auftauchender Eisbär gibt sich verspielt und vermittelt eine ungewöhnliche Anmutung vom Charme des Pelztieres und in Ausschnitten den Reiz eines Tänzerinnenkörpers. Dazu gibt es die Klangwelten von Vincent Wikström, die in den einzelnen Szenen durchaus ihre Wirkung verströmen, aber nach dem eingangs wilden und hektischen Club-Sound doch eher misstrauisch gehört werden. Auch die Kostüme von Katharina Ruprecht verlieren nach der kuscheligen Idee der Schlafanzüge ihren Reiz.

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Elias Bäckebjörg, Anika Bendel, Martina Gunkel, Selina Koch und zugeschaltet Lisa Thomas zeigen eine wenig Neues bietende Körpersprache. Dieser Eindruck wird verstärkt durch die, sagen wir, künstlerische Kameraführung. Die unpräzise Bildregie, die immer wieder im Hauptbild den tristen Bühnenraum zeigt, mag für die Macher aufregend gewesen sein, für den Besucher bleibt wenig Spannung. Wenn es in die Nahaufnahme geht, wird oft der Fokus nicht getroffen. Da wird viel Energie aus der Aufführung genommen.

Wenn am Anfang viele Kissen für die Gemütlichkeit sorgen, später der Eisbär so richtig kuschelig rüberkommt, endet die Aufführung damit, dass die Tänzer an Fäden über die Bühne gezogen werden. Ist das die Botschaft? Dass wir uns als Marionetten fortbewegen, um unsere gemütliche Wahrheit zu bekommen? Das wäre frustrierend. Und momentan viel zu sehr an der Wahrheit, als dass es erbaulich sein könnte.

So nimmt man mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis, dass es auf der Seite kein Fortkommen gibt. Irgendwie wird das nicht zu Ende programmiert, und so hängt der Besucher am Ende in einer Endlosschleife, aus der es kein Entrinnen gibt. Zwar wird ein Nachgespräch angeboten, aber darauf eine knappe halbe Stunde zu warten, erscheint dann auch nicht wirklich erstrebenswert.

Bleibt das Fazit, dass hier wirklich großartige Sachen ausprobiert worden sind, von denen wir mehr sehen wollen. Und die Tatsache, dass es möglich ist zu interagieren, eröffnet noch einmal ganz andere Welten. Tänzerisch gibt es nichts zu beanstanden und damit freuen wir uns auf eine Fortsetzung, die das Geschehen bis zum Ende denkt.

Michael S. Zerban