O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Martin Sigmund

Aktuelle Aufführungen

Das Böse lauert überall

DER FREISCHÜTZ
(Carl Maria von Weber)

Gesehen am
7. November 2020
(Premiere am 12. Oktober 1980)

 

Staatsoper Stuttgart

Wie schon im Frühjahr ist es zu mindestens für die Kulturszene in diesem trüben November faktisch zu einem Lockdown gekommen, die Theater bleiben geschlossen. Viele der großen Häuser nutzen die Möglichkeit, Aufnahmen von ihren Produktionen als Stream anzubieten, um nicht ganz in Vergessenheit zu geraten und um diese kulturlose Zeit irgendwie zu überbrücken. So auch die Staatsoper Stuttgart, die mit einer Jubiläumsproduktion aufwartet. Vor 40 Jahren, am 12. Oktober 1980, hatte Carl Maria von Webers Der Freischütz in der Inszenierung von Achim Freyer Premiere. Aus alten Berichterstattungen weiß man, dass diese Premiere ein Riesenskandal war, heutzutage gilt die Inszenierung als Kult. Für eine Woche ist die Produktion nun über einen YouTube-Link zu sehen, die 1981 für das Fernsehen mitgeschnitten wurde und mittlerweile vergriffen ist. Und das ist das Hauptproblem dieses Mitschnittes. Die Tonqualität ist ganz passabel, von einigen wenigen Übersteuerungen abgesehen. Allerdings ist die Bildqualität, gelinde gesagt, eine Zumutung. Das Bild wirkt verwaschen, teilweise unscharf, wie von einer alten Super-8-Kamera aufgenommen. Dazu ist die Kameraführung sehr einseitig und statisch. Das Ganze wirkt wie die Aufnahme einer Schulaufführung, die vom Musiklehrer fürs Schülerarchiv mitgeschnitten wurde. Dazu passt auch die Inszenierung von Achim Freyer, der nicht nur die Regie besorgte, sondern auch für das Bühnenbild und die Kostüme verantwortlich war, quasi als One-Man-Show, nur unterstützt durch die Lichtregie von Hans-Joachim Haas. Wo bleibt der Skandal, möchte man sich fragen, wenn man diese biedere, fast schon puppenhafte Inszenierung in einem gemalten Bühnenbild und in Kostümen, die mehr die Zeit der Uraufführung des Freischütz darstellen als die Zeit nach Ende des 30-jährigen Krieges, in der die historische Geschichte verortet ist. Es ist eine Welt, in der Aberglaube und menschliche Abgründe und Schrecklichkeiten hinter der Fassade bürgerlicher Biederkeit lauern. Freyer stellt Ängste und Aberglauben der Figuren in den Vordergrund, die sich in ihrem Handeln vom Glauben an Gott und Teufel beeinflussen lassen. Die Gesichter der Figuren sind alle grell geschminkt, teils sind sie wie Totenmasken wachsbleich oder schmutzig und kretinhaft entstellt, wie Kasperlefiguren in einem Puppentheater. Freyer beschreibt eine bürgerliche Gesellschaft, die durch den Einbruch des Aberglaubens und unter der Angst vor dem Bösen leidet. Schon vor der Ouvertüre beginnt die Geschichte mit dem Gebet des Eremiten, der die weißen Rosen für Agathe segnet. Die Szene ist mehr Erklärstück für Opernanfänger, die sich das erste Mal mit dem Werk auseinandersetzen, bringt aber für die Dramaturgie recht wenig. Vor dem vermeintlich glücklichen Ausgang der unheimlichen Geschichte über Versagensängste, gesellschaftliche Zwänge und individuelle Glücksansprüche tun sich Abgründe auf und die Macht des Bösen scheint zu triumphieren.

Bildschirmfoto

Da ist Max, von dessen traditionellem Probeschuss seine ganze bürgerliche Existenz und sein Liebesglück abhängen und der den alleinigen Ausweg im Pakt mit dem Teufel sieht. Freyer charakterisiert ihn als zweifelnde Persönlichkeit, als ein Außenseiter, der kein heldenhafter Jägersbursche ist, sondern ein verängstigt wirkender Einzelgänger. Den Pakt mit dem Teufel, hier Mephistopheles gleich dargestellt, hat Kaspar längst geschlossen. Und auch die Max versprochene Agathe muss ebenso wie ihr Bräutigam mit der bangen Frage leben: „Verfiel ich in des Zufalls Hand?“ Daher versucht auch sie verzweifelt, sich nicht völlig den Irrungen und Wirrungen des Schicksals ausgeliefert zu sehen. Sie scheint die Einzige zu sein, die realistisch die Situation erfasst und Stärke aus ihrem unerschütterlichen Glauben zieht, während Ännchen mit ihrer naiven, aber stets optimistischen Stimmung den Kontrapunkt setzt. Auch der Höhepunkt einer jeden Freischütz-Inszenierung, die Szene in der Wolfsschlucht, wird hier mehr als gruselndes Theaterstück für Kinder inszeniert. Im Hintergrund erscheint eine überdimensionierte Spinne, Untote und Fabeltiere in komischen Kostümen wandeln über die Bühne, von Max vergeblich beschossen. Und Kaspar schneidet unter lautem Lachen des Publikums einem Stoffluchs das Auge aus dem Schädel. Der Kugelsegen hat dabei seinen Schrecken verloren, und auch das wilde Heer wird lediglich durch einen fast die Kulissen zerlegenden Bühnensturm angedeutet, das Geschehen auf der Bühne ähnelt da mehr einem Gemälde von Hieronymus Bosch. Die Szene mit den Brautjungfern ist genauso wie der Jägerchor eine Persiflage des dümmlich bürgerlichen Tuns, was aber natürlich die Entlarvung der Tümelei sein soll.

Auch Fürst Ottokar, auf einem Hochstuhl thronend und von oben regierend, ist ein Abbild von Standesdünkel und einer sich den Hierarchien unterwerfenden Bevölkerung. Freyer arbeitet mit allen gängigen Klischees, und indem er sie überzeichnet einsetzt, entlarvt er die Oberflächlichkeit, unter der das Böse, sprich die menschliche Seele als Abgrund lauert. Dieser Freischütz liefert dank greller Überzeichnung die Parodie seiner selbst gleich mit. Die gemalten Prospekte und der märchenhafte Spuk der Wolfsschlucht wirken auf den ersten Blick naiv, bewirken aber für den modernen Betrachter zugleich eine Distanzierung, die auch die problematischen Aspekte der Oper öffnet, nämlich gefangen zu sein in einem System, das Verstöße gegen die Obrigkeit geradezu erzwingt und damit in seinen Aussagen auch heute noch eine Tagesaktualität besitzt.

Musikalisch und sängerisch hat diese Aufnahme einiges zu bieten. Die Sängerdarsteller leben die Inszenierung, da sie dem Regiekonzept von Achim Freyer uneingeschränkt folgen.

Bildschirmfoto

Toni Krämer in der Rolle des Max hat die strahlende Höhe eines Heldentenors, um auch die dramatischen Ausbrüche zu stemmen, ohne dabei auch nur einen Hauch zu wackeln. Spielerisch ist Krämer nicht der jugendliche Draufgänger, was sein Spiel manchmal etwas schwerfällig und steif erscheinen lässt. Grandios sein Widerpart Wolfgang Probst als Kaspar. Mit unbändiger Kraft tritt er auf und leidet so tief in dieser Rolle, dass man in der Wolfsschlucht-Szene fast Angst um ihn bekommt. Sein Bass-Bariton hat die richtige Schwärze und Ausdruckskraft, die diese Partie abverlangt. Catarina Ligendza, die schon die Erfahrung einer Isolde in Bayreuth mitbringt, gibt die Agathe träumerisch, schwermütig und überzeugt sowohl mit zarten Piano-Tönen als auch strahlenden Höhen in ihren beiden großen Arien, während sie spielerisch, dem Regiekonzept geschuldet, sehr statisch bleibt. Ganz anders das Ännchen von Raili Viljakainen, die vor Energie und Spielwitz sprüht und mit ihrem schlanken Sopran beim Publikum groß abräumt. Roland Bracht, Bass-Urgestein der Stuttgarter Staatsoper, ist als Eremit ganz in weiß gekleidet. Schon seine dominante physische Ausstrahlung ist bezeichnend, und sein großer balsamischer Bass macht die Eremitenszene zu einem besonderen musikalischen Ereignis. Wolfgang Schöne gibt den Ottokar im roten Purpur des Fürsten von oben herab mit aristokratischer Noblesse und Arroganz, seine Unterordnung unter den Willen des Eremiten ist nur gespielt. Fritz Linke als Kuno und Helmut Holzapfel als Kilian runden das großartige Sängerensemble ab. Die Stimme des Samiel von Wolfram Raub dröhnt in der Wolfsschlucht durchaus unheilvoll.

Der Chor der Württembergischen Staatsoper Stuttgart ist mit viel Spielwitz und Engagement bei der Sache und von Ulrich Eistert bestens eingestimmt. Auch das Orchester der Staatsoper unter der Leitung des damals noch sehr jungen GMD Dennis Russel Davies weiß zu überzeugen. Schon die ersten Töne der Ouvertüre, langgezogen und düster, lassen das Unheil ahnen, das da kommen wird. Die einzelnen Motive werden dominant herausgearbeitet, und das Tempo erscheint langsam, dafür intensiv und atemraubend. Davies wühlt in den dunklen Tiefen der Partitur und betont das Dämonische in der Musik. Dabei ist sein Schlag präzise, sein Dirigat sängerfreundlich und unprätentiös. Das Publikum dieses Mitschnitts, das schon während der Aufführung nicht mit Szenenapplaus geizte, bricht am Schluss fast schon in Jubel aus. Von Ablehnung oder gar Skandal ist da nichts mehr zu merken. Dafür gibt es auch keinen Grund, denn Achim Freyer hat mit dieser Inszenierung zwar ein vordergründig biederes, aber unter der Oberfläche ein tiefenpsychologisch verästeltes Werk auf die Bühne gebracht, das man auch nach vierzig Jahren gut anschauen kann, ja sogar tauglich für den Musikunterricht in der Schule, wenn man dem interessierten Nachwuchs eine wunderbare deutsche Oper näher bringen möchte. Schade nur, dass die Bildqualität so schlecht ist und die Kameraführung so statisch.

Andreas H. Hölscher