O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Lieber von Schalke träumen

SEX ODER EX
(Anthony Neilson)

Besuch am
18. März 2023
(Premiere)

 

Kammerspielchen Solingen

In Solingen-Gräfrath gibt es gleich neben dem traumhaft schönen historischen Ortskern das Kammerspielchen Solingen. Seit zwölf Jahren, so verrät es ein vergilbter Zeitungsartikel im Schaufenster, existiert das kleine Theater bereits. Nein, hier gibt es keine „Hochkultur“, weil das angesichts der Nähe zur Landeshauptstadt Düsseldorf und zu Wuppertal auch nicht notwendig ist. Hier gibt es Unterhaltung, und wenn man den Zuschauerstimmen glauben darf, vom Allerfeinsten. Gerade mal 59 Plätze bietet der Zuschauerraum, aber Größe ist in dem ungewöhnlich aufgeteilten Theater auch nicht das Kriterium. Die Menschen kommen, weil sie sich in dem kuscheligen Ambiente wohlfühlen und weil, so hört man, hervorragende Schauspieler auftreten.

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Jetzt gibt es einen zwingenden Grund, auch mal aus den großen Städten ringsum in den pittoresken Ortsteil von Solingen zu kommen. Denn heute findet die Premiere eines Stückes statt, das mit Sex oder ex einen Titel trägt, der nach einer dieser üblichen Komödien klingt und von dem man sich nicht in die Irre leiten lassen darf. Regisseur Marc Ossenbrink hat die Geschichte des schottischen Autors Anthony Neilson für das deutsche Publikum adaptiert. Neilson gilt als „Vertreter einer in den 1990-er Jahren entstandenen britischen Theaterströmung, die das Publikum durch intelligente Unterhaltung auch bei vermeintlich heiklen Themen wie Sex oder Gewalt gleichermaßen zum Lachen und Nachdenken anregen möchte“, wie in der Vorankündigung zu lesen ist. Das klingt ja schon mal nicht nach Zoten und Schenkelklopfer. Da müsste Ossenbrink in seiner Adaption zumindest schon mal viel verbocken. Aber er hütet sich. Gut, Jimmy und Jessica der Originalversion müssen Christian und Lena weichen, aber das geht in Ordnung, weil die beiden auf die Identifikation des Publikums mit ihnen angewiesen sind. Die Geschichte selbst ist schnell erzählt. Chris oder schlimmer Chrissi und Lena sind seit neun Jahren ein Paar. Verheiratet sind sie „selbstverständlich“ nicht, denn schließlich ist die Ehe nach Chris „ein überkommenes Relikt des Patriarchats“. Das größere Problem allerdings ist, dass die beiden, die ansonsten wunderbar miteinander auskommen, seit vierzehn Monaten keinen Sex mehr miteinander haben. Die Paartherapie war erfolglos. Und so ist die Stunde der Entscheidung da. Entweder es gibt jetzt choram publico Sex, oder die Beziehung findet an diesem Abend ihr Ende.

Die Bühne ist komödientypisch eingerichtet. Vor einem altrosafarbenen Vorhang im Hintergrund, an dem das Schild mit der Aufschrift „Make love not war“ aufgehängt ist, steht zentral ein Doppelbett. Rechts davon in der Ecke eine Skulptur, von der man nicht weiß, ob es einen Phallus, einen Dildo oder einen Speisepilz darstellt. Auf der anderen Seite des Bettes ein Nachttisch mit einer dauergrünen Pflanze und auf der linken Seite ein Podest mit zwei Kelchen und einer Flasche Wein. Vor dem Bett sind zwei Barhocker aufgestellt, gefühltes Herstellungsjahr 1970. Einmal mehr scheint es gelungen, die Schere zwischen Budget und einer gewünschten Mondän-Ausstattung zu schließen. Zumindest, bis das Bett während der Aufführung fast auseinanderbricht. Das Licht ist wie bei solchen Gelegenheiten denkbar einfach. Schön aber der Einfall, das helle Einheitslicht durch Verfolger zu ersetzen, wenn Monologe anstehen. Und wenn Ossenbrink einen Fehler gemacht hat, dann ist es der, eine Besucherempfehlung ab 16 Jahren auszusprechen. Mehr als ein Marketing-Gag wäre gewesen, Besucher ab 30 oder 40 Jahren einzuladen. Denn mit 16 muss man sich – hoffentlich – nicht mit solchen Themen auseinandersetzen.

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What a difference a day makes: Der Song, der 1934 im Spanischen entstand, gelangte 1959 in der Interpretation von Dinah Washington zu Weltruhm. Und schafft die richtige Eröffnung eines solchen Abends. Allzu schnell wird die Idylle durchbrochen, die zuvor noch die Herzen der Zuschauer angreift. Mit geschliffenen Dialogen statt flauer Witze und Tiefgang statt oberflächlichem Klamauk starten Julia Karl und Marcus Michael Mies durch. Unterstützt werden sie dabei von Techniker Günni, dargestellt von Christian Günther, der stoisch seinen Aufgaben nachkommt – und manchmal auch ein unstillbares Bedürfnis nach Kartoffelchips hat. Bewundernswert bei Karl: Sie braucht eigentlich keinen Text. Mimik und Spielfreude sind sensationell. Der entscheidende Blick zu Chris gelingt ihr in dem Moment, in dem sie das Publikum begeistert. In Verbindung mit ihrer Textsicherheit entzückt sie auch dann, wenn es ernst wird. Nachdenklich stimmt Mies, der die Unsicherheit einer ganzen Männergeneration auf sich vereinigt. Wunderbar, wie er der wokeness aus dem Weg geht, aber ständig der feministischen Falle zu entgehen versucht, um sich noch tiefer in die Nesseln zu setzen. Wildheit in der erotischen Attacke? Vergiss es. Sexuelle Fantasien gehören der Vergangenheit an, weil sie diskriminierend wirken. Aber Lust ist gefragt, nicht, an den Lieblingsfußballverein im Bett zu denken. Ja, das ist jetzt alles ein bisschen pauschal, aber wie soll ein Mann differenziert mit Anforderungen einer Frau umgehen, die einfach nur Sex will. Was ist denn „einfach nur Sex“?

Da will man sich doch einfach nur zu ihm auf die Bühne setzen und eine Selbsthilfegruppe gründen. Oder herzhaft lachen. Es ist eine verrückte Situation, die dem Leben abgeguckt ist. Es wird hier nicht verraten, welche Wendungen dieser amüsante und nachdenkliche Abend nimmt, weil man sich das selbst anschauen muss. Der aufbrausende Applaus jedenfalls ist noch viel zu wenig.

Wer bei einer der folgenden sechs Aufführungen von außerhalb anreist, sollte das drei Stunden eher unternehmen, um sich den herrlichen Ortskern anzuschauen und sein Abendessen vor Ort zu genießen. Das wäre dann ein herrlicher Ferientag, ohne einen Tag Urlaub zu vergeuden. Besonders empfehlenswert für Paare, die sich dringend mal mit ihrem Sex-Alltag auseinandersetzen müssen.

Michael S. Zerban