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KÖNIGSKINDER
(Engelbert Humperdinck)
Besuch am
4. September 2021
(Einmalige Aufführung)
Das Bessere, sagen manche, sei der Feind des Guten. Denken wir an die Pferdekutsche, eine gute Sache. Händel reist mit ihr nach Italien, Beethoven von Bonn nach Wien. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts ist es die Dampflok, die an die Stelle der Kutsche tritt. Die Eisenbahn erobert sich die Oper, eine noch bessere Sache. Für Sänger und Musiker wird es bequemer, von Theater zu Theater zu reisen. Die Bahn avanciert sogar zu einem beliebten Requisit der Ausstattung. Im zweiten Akt von Jonny spielt auf von Ernst Krenek ist es ein entscheidender Teil der Handlung, der auf einem Bahnhof spielt.
Mit Engelbert Humperdincks Königskinder scheint es sich ähnlich zu verhalten. Sein Melodram in drei Akten auf ein Libretto, eigentlich ein Schauspiel, von Ernst Rosmer alias Elsa Bernstein ist im Jahrzehnt nach der Münchner Uraufführung 1897 ein Erfolg. Gegeben und gefeiert an Bühnen in Kerneuropa, England, den USA. Mit der noch erfolgreicheren Opernversion der Königskinder, die Humperdinck zwischen 1908 und 1910 als Auftragswerk für die Met in New York erarbeitet, verschwindet das Melodram nahezu vollständig aus den Spielplänen der Musiktheater. Das Bessere als Feind des Guten? Das Bonner Beethovenfest 2021 ermöglicht eine Neubegegnung. Und für den, der will, eine Neubewertung.
Passend zum 100. Todestag des in Siegburg geborenen Komponisten, der sich 22 Jahre in der kleinen Stadt an der Sieg wie seinerzeit Beethoven in Bonn aufhält, gönnt das Beethovenfest Bonn der Urfassung der Königskinder eine Auferstehung. Michael Hofstetter dirigiert die Neue Philharmonie Westfalen und inspiriert auf der Bühne des nicht ganz gefüllten Rhein-Sieg-Forums eine konzertante Aufführung, die die volle Konzentration des Publikums fordert und ermöglicht.
Ist schon die Oper ein Lehrstück über den Antagonismus von Empathie und Eigennutz, von Herzenswärme und sozialer Ausgrenzung, so erzählt das Melodram von einer in Anfeindung und Eiseskälte erstarrten Gesellschaft auf noch bitterere Weise. Nicht einmal die Liebe vermag die Unterschiede in Herkunft und Abstimmung, die krass gezogenen sozialen Schranken zu überwinden. Am Ende liegen Kinder, hier Königskinder, tot am Boden wie heutzutage auf den Kriegsschauplätzen dieser Welt. Kinder, in denen sich das Gemeinwesen neu finden könnte. So bleibt dem Spielmann einzig die Geste, ihnen seine Fiedel „in‘s Grab zu werfen“.
Das Genre Melodram, das Arnold Schönberg 1932 in seiner Oper Moses und Aron adaptiert, bietet eine Reihe von Besonderheiten. Da sich Gesungenes und Gesprochenes abwechseln, tritt Aussage, Text passagenweise in der ursprünglichen Art in Erscheinung, wie im Schauspiel. Hier die blumige Sprache Rosmers im Stil der Romantik, wenn etwa der Königssohn die Gänsemagd als Du süßes Kränzel bist mir brusteigen anschwärmt. Oder sie „glutüberflossen“ wagnerianisch preist: Du Tagholde! Du Nachtsüße!. Der rhetorische Schlüsselpart fällt der Erzählerin, in Personalunion mit der Hexe zu, der der Schauspielerin Harriet Kracht anvertraut ist. Nach Engagements an verschiedenen Theatern ist sie als freie Schauspielerin, Sprecherin und Synchronsprecherin tätig. Kracht hat Bühnenpräsenz und eine vitale akustische Ausstrahlung. Ihre Stimme nuanciert melodiös, arbeitet das Intime wie das Schneidende ihrer Rolle großartig heraus. Gepaart mit einer markanten Körpersprache, die mit Fingerzeig und blitzenden Augen unterwegs ist.
Den Sängern verlangen die genrespezifischen Sprünge zwischen Singen und Sprechen allerlei Unorthodoxes ab. Kaum hat sich der Fluss einer vokalen Phrase einigermaßen aufgebaut, wird er schon wieder abrupt abgerissen. So allein – ein Beispiel – in der Sequenz der Gänsemagd Deiner Kron hab‘ ich nicht begehrt, ein Ringlein treute mir besser bis zu drei Mal.
Foto © Barbara Frommann
Das Sängerdreigestirn meistert die Anforderungen durchweg vorzüglich. Tenor Daniel Johannsen ist als Königssohn beeindruckend. Sein lyrisches Organ trifft in silbriger und höhensicherer Manier die Nuancen seines Parts aufs Feinste. So wird verständlich, warum der ausgebildete Kirchenmusiker einer der gefragten Evangelisten der Gegenwart ist. Dazu dürfte ihn sein Timbre für zahlreiche Tenorpartien in Spielopern qualifizieren.
Mezzosopranistin Marie Seidler, profiliert durch Mozart-Partien am Stadttheater Gießen während der GMD-Ära Hofstätters dort, verströmt als Gänsemagd poetische Innigkeit. In Erinnerung bleibt vor allem Vater! Mutter! Hier will ich knien!, ein Flehen um Erlösung. Dabei liegt ihre Stimme für den Part etwas zu hoch. Es ist vielleicht kein Zufall, dass Humperdinck die Rolle der Gänsemagd in der späteren Oper als Sopran anlegt. Michael Zehe, wohl ein Basso cantante, ist ein kraftvoller Spielmann, der das Robuste wie das Philosophische seiner Rolle gleichermaßen zu interpretieren versteht. Seine lange Sequenz Täubchen wenn du den Weg mir weist besiegelt das traurige Finale wie ein Schlussstein aus Marmor.
Die Neue Philharmonie Westfalen, einfühlsam von Hofstätter geführt, zeigt insbesondere in den drei elegischen Vorspielen zu den einzelnen Akten, dass und wie sie „ihren“ Humperdinck versteht. Hat sie doch unter ihrem Chefdirigenten Rasmus Baumann 2018 mit der Opernversion der Königskinder bereits eine famose Humperdinck-Erfahrung gemacht. Der Philharmonische Chor der Stadt Bonn unter der Leitung von Paul Krämer, ein semi-professionelles Ensemble, gibt dem Volk, den Ratsherren und allerlei weiteren Figuren eine adäquate Stimme.
Für das Finale sorgt in Drittel-Stärke der Kinder- und Jugendchor des Theaters der Stadt Bonn unter der Leitung von Ekaterina Klewitz. Leider wird er etwas stiefmütterlich behandelt. Ist schon sein Auftritt gering, ist nicht zu verstehen, warum beim Schlussapplaus keinerlei Anstalten gemacht werden, die jungen Künstler in die Aufmerksamkeit der Besucher einzubeziehen. Gleich zwei Dirigenten hätten hierfür sorgen können. Auch sie in einem gewissen Sinne Königskinder, die am Rand des Geschehens bleiben.
Das Publikum im nach Corona-Aspekten durchgeplanten Rhein-Sieg-Forum verteilt im Übrigen seinen freundlichen anhaltenden Beifall gleichmäßig über alle Mitwirkenden. Auferstehn, ja auferstehn ist das Leitmotiv des Beethovenfestes Bonn 2021. Quasi Auferstehung feiert hier ein Stück, das seinen Platz in einer größeren Werk- und Rezeptionsgeschichte hat. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Ralf Siepmann