O-Ton

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Aktuelle Aufführungen

Alte Musik gibt es nicht

IL LAMENTO DELL’ANIME
(Diverse Komponisten)

Besuch am
2. April 2023
(Einmalige Aufführung)

 

Los Temperamentos in der Stiftskirche Cappenberg

In ihrer Heimatstadt Bremen sind sie längst die Lokalmatadore der alten Musik, bei den entsprechenden Festivals weltweit gern gesehene Gäste. Seit vierzehn Jahren stehen Los Temperamentos dafür, aus alter Musik neue, so noch nicht gehörte Klänge zu erzeugen. Deshalb gibt es für das Ensemble eigentlich auch keine alte Musik. Dass sie inzwischen Mails aus Japan oder Nordamerika erhalten, weil sie von zukünftigen Reisenden in ihre Europa-Tour eingeplant werden, erzählt Néstor Fabián Cortés Garzón, Künstlerischer Leiter des Ensembles. Vom Namen des Ensembles darf man sich nicht in die Irre leiten lassen. Es sind nicht etwa die aufgekratzten, ewig lustigen Musiker, die hier eben temperamentvoll auftreten, vielmehr bezieht der Name sich auf die verschiedenen Temperamente, also Mischungen, die aus der Humoralpathologie bekannt sind. Als da wären die Phlegmatiker, Sanguiniker, Choleriker und Melancholiker. Eine Einteilung, die vor allem im 18. Jahrhundert – auch medizinisch – Bedeutung erlangte und ganz verschiedene Gemütszustände oder Charaktere beschrieb. Und so finden die unterschiedlichen Farben Eingang in die Programme des Ensembles.

Swantje Tams Freier – Foto © O-Ton

Mit Il lamento dell‘anima stellen sich die Musiker heute in der Stiftskirche Cappenberg vor. Die Klage der Seele ist ein Programm, das wunderbar in die Passionszeit passt, weil es eine Vielzahl an Werken enthält, die sich mit der Zeit des Leidens, des Innehaltens, aber auch der Wut und Trauer auseinandersetzen. Und so eignet sich das Programm hervorragend, um am Palmsonntag die Konzertreihe Vespermusik in der Stiftskirche Cappenberg zu eröffnen. Die Kirche liegt auf dem Gelände von Schloss Cappenberg in Selm, einer Kleinstadt mit rund 27.000 Einwohnern im nordrhein-westfälischen Kreis Unna, ist im Innenraum durchaus überschaubar und über den Winter kräftig abgekühlt. Ein Schicksal, das sie mit vielen Gotteshäusern teilt und das die Betreiber in den kommenden Jahren in nicht gekanntem Ausmaß beschäftigen wird. Die Schäden, die durch die bewusste Kühlung der Kirchen hervorgerufen werden, sind überhaupt noch nicht absehbar. Erfahrene Kirchenbesucher kennen das und besuchen ein Kirchenkonzert in dicken Mänteln und Mützen. So auch heute in der ausverkauften Stiftskirche St. Johannes Evangelist.

Dramaturgisch ist das Programm ausgereift. Es beginnt mit einer Ciaconna von Benedetto Giacomo Marcello. Mit dem Allegro in F-Dur aus XII. Suonate a Flauto, Opus 2 stellt Felipe Maximiliano Egaña Labrin schon mal seine Fähigkeiten an der Traversflöte unter Beweis. Er wird später noch an der Blockflöte und als Paukist glänzen. Jetzt lässt er sich erst mal von Garzón an der Gitarre und Nadine Remmert am Cembalo begleiten. Remmert mag auch gar nicht aufhören und leitet mit einem Zwischenspiel auf einen französischen Komponisten über. Jean Baptiste Barrière schrieb die Sonate pour le Violoncello, Livre III°, aus dem die vierte und viersätzige Sonate zu Gehör gebracht wird. Garzón lässt sich von Remmert und Geigerin Alice Vaz begleiten. Barrière verlangt virtuose Fähigkeiten am Cello, sorgt ab dem dritten Satz für Lebhaftigkeit. Im vierten Satz wird es richtig munter. Da glaubt man, Blues-Akkorde und Filmmusiken zu hören.

Néstor Fabián Cortés Garzón – Foto © O-Ton

Ein großes Thema beim Ensemble ist Georg Philipp Telemann, der in seinen Augen immer noch unterbewertet ist. Für das Konzert hat es ein ganz besonderes Werk ausgewählt, das Telemann für den vierten Sonntag der Passionszeit schuf und das besonders die Gefühle der Wut und Verzweiflung zum Ausdruck bringt. Die Sopranistin Swantje Tams Freier erweist sich als perfekt geschulte Sängerin der alten Musik, wenn sie aus der Kantate Du bist verflucht, o Schreckensstimme die Arie Du bist verflucht, das Rezitativ So ist’s und die Arie Frohlocket Ihr seligen Kinder darbietet. Der Abendzettel lässt die Texte vermissen. Da hätte man mal lieber auf die vollkommen überflüssigen „Gender-Sternchen“ verzichtet. Aber wenn die Ideologie die Hoheit übernimmt, werden Inhalte überflüssig.

Da es sich um eine Kirchenveranstaltung handelt, darf Johann Sebastian Bach nicht fehlen. Und so spielt Labrin erneut auf, um die Sonate für Traversflöte in E-Dur in vier Sätzen aufzuführen, die von Cello und Cembalo untermalt wird. Danach lässt ein Stück aufhorchen, das dem Archivo de Chiquitos entnommen ist und aus Bolivien im 18. Jahrhundert stammt. Zu kräftigen Paukenschlägen singt Tams Freier Señora Doña Maria. Auch an dieses Werk schließt Remmert wieder eine kleine Improvisation an, um nahtlos zum Adagio der Triosonate Nr. 3 in A-Dur des aus Ostfriesland stammenden Philipp Heinrich Erlebach aus dem 17. Jahrhundert überzuleiten. Diese Musik ist ebenso selten zu hören wie das Oratorium Maddalena ai piedi di Cristo von Antonio Caldara aus etwa dem gleichen Zeitraum. Daraus trägt Tams Freier die Arie Non sdegna, das Rezitativ Omai spezza quel nodo und die Arie Pompe inutili vor.

Den krönenden Abschluss bildet ein wahrer Freudentanz – zu Ehren der Toten. Jarabe Loco ist ein Volkslied, das am Tag der Toten in Mexiko gespielt wird. Während die Menschen in Deutschland am Totensonntag in die Kirche oder auf den Friedhof gehen, um ihrer Verstorbenen zu gedenken, ist der Día de los Muertos eher ein Tag, an dem sich die Mexikaner mit fröhlichen Familienfesten an ihre Toten erinnern. Die Stimmung übertragen die Musiker von Los Temperamentos auf ihre Besucher, die nach etwa 75 Minuten ihre Freude über den gelungenen Nachmittag mit langanhaltendem Applaus zum Ausdruck bringen. Allerdings sind inzwischen alle so durchgefroren, dass hier keinem mehr nach einer Zugabe zumute ist. Die Erinnerung an eine ziemlich jung klingende Musik aus dem 17. und 18. Jahrhundert allerdings wird wohl noch eine ganze Weile vorhalten.

Michael S. Zerban