Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
IL TRIONFO DEL TEMPO E DEL DISINGANNO
(Georg Friedrich Händel)
Besuch am
21. Mai 2021
(Premiere)
World’s Top Model – Finale 21 Salzburg“ prangt mit Riesenlettern auf der Leinwand. Und dann am blinkenden Rahmen drumherum die Worte: „Applaus, Applaus!“ Und gleich marschieren sie alle am Laufsteg, der rund um den Orchestergraben führt, vor der Jury auf. Aber es kann nur eine gewinnen und zwar die Schönste, nämlich „Bellezza“: Als grelle Casting Show lässt Robert Carsen Georg Friedrichs Händels Il trionfo del Tempo e del Disinganno, die Eröffnungsproduktion der diesjährigen Salzburger Pfingstfestspiele im wegen Corona nur halb besetzten Haus für Mozart beginnen: Nicht zu Unrecht, denn es geht bei diesem Meisterwerk um Schönheit und Vergnügen, aber auch um die vergängliche Zeit und das Überdenken des eigenen Lebens. Und es trifft überraschenderweise absolut den heutigen Zeitgeist.
Händel erstes Oratorium, das er 1707 als 24-Jähriger in Rom komponierte, basiert auf dem ziemlich moralisierenden Text von Kardinal Benedetto Pamphili, einem Wortwechsel von vier allegorischen Figuren: Piacere/Vergnügen bestärkt Bellezza/Schönheit, weiter ein Leben sorgloser Ablenkung zu führen, während Tempo/Zeit und Disinganno/Enttäuschung im Sinne von Erkenntnis davor warnen. Wenn die Schönheit die verheerende Wirkung der Zeit vermeiden wolle, müsse sie sich einen Platz im Himmel sichern, wo die Zeit keinen Einfluss mehr habe.
Foto © Monika Rittershaus
Wunderbar und klug, wie der Regisseur, der sich heuer mit dem Titel „Regisseur des Jahres 2020“ schmücken kann, den Kontrast zwischen Vergnügungssucht und vergänglicher Zeit realisiert: Hier die exzessive Welt des Glamours mit Shows, wilden Tänzen in der Disco, mit Drogen, Alkohol, Sex, Bellezza verführt gleich einmal den Discjockey, immer begleitet von Kameras und Videos. Dort die dunkle, ruhige, fast asketische Welt der Vernunft, die im Laufe des Abends immer mehr überhandnimmt, mit einer Psychoanalyse-Couch und berührender Begegnung von Bellezza mit ihrer kindlichen und alten Doppelgängerin in einem riesigen „Spiegel der Wahrheit“, der auch symbolhaft dem ganzen Publikum vorgehalten wird. Die Ausstattung stammt von Gideon Davey. Und letztlich schreitet die geläuterte Schönheit bei ihrer letzten Arie ganz allein in ihrem weißen Kleidchen auf leergeräumter Bühne beim Hintertor hinaus. Ein starkes Finale!
Diese fordernde Partie wird von Mélissa Petit verkörpert: Ständig präsent, muss sie allein zehn Arien singen. Und wie sie sie singt: Reich an Nuancen, mit Klarheit, Innigkeit, Höhensicherheit und saubersten Koloraturen. Ihre verführende Teufelsfigur des Vergnügens ist Cecilia Bartoli in knallrotem Hosenanzug, die wieder ein perfektes Koloraturen-Feuerwerk zündet. Betörend weich erklingt aber auch der Arien-Hit Lascia la spina, ein Juwel aus Händels Feder. Charles Workman in priesterlicher Soutane als Zeit besticht mit reichschattiertem, baritonal klingendem Charaktertenor und Lawrence Zazzo als Erkenntnis mit exzellentem Countertenor. Mitreißend oder angepasst an die jeweilige Gefühlstimmung, aber nie aufdringlich, sondern organisch ins Geschehen eingebettet, sind die Tanzeinlagen, deren Choreografie Rebecca Howell besorgte.
Die Musik des Oratoriums ist ungemein abwechslungsreich und voller überraschender Gedanken, die laut neuerer Forschungen allerdings nicht alle von Händel stammen sollen. Sie werden vom Ensemble Les Musiciens du Prince-Monaco unter Gianluca Capuano delikat mit feinsten Schattierungen und betörenden Pianissimi, aber auch viel Energie wunderbar dargeboten.
Das Publikum ist restlos begeistert, es jubelt und trampelt und spendet letztlich stehende Ovationen.
Helmut Christian Mayer