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INTOLLERANZA 1960
(Luigi Nono)
Besuch am
15. August 2021
(Premiere)
Er ist ein namenloser Auswanderer, der in seine Heimat zurückkehren will. Auf dieser Reise gerät er in eine Demonstration und wird als Unschuldiger festgenommen, gefoltert und in ein Konzentrationslager gebracht. Sein Heimweh schlägt um in Sehnsucht nach Freiheit. Es gelingt ihm mit einem Algerier die Flucht, den Duft der Freiheit zu schnuppern und eine Gefährtin zu finden. Doch das Schicksal trifft ihn in Form einer Flutwelle, die eine humanitäre Katastrophe auslöst: Davon handelt Luigi Nonos Intolleranza 1960. Die Uraufführung dieser „Azione scenica“ in zwei Teilen nach einer Idee von Angelo Maria Ripellino fand 1961 im Teatro la Fenice in Venedig statt, wobei sie von Protesten der Neofaschisten damals fast gekippt worden wäre. Beim vom Komponisten selbst erstellten Libretto verwendete er Texte von Henri Alleg, Bertolt Brecht, Paul Éluard, Julius Fučík, Wladimir Majakowski, Angelo Maria Ripellino und Jean-Paul Sartre.
Und es ist unglaublich, welche Aktualität dieses Werk auch 2021 aufweist: Rassismus, Unterdrückung, Verlust der Menschenwürde, Heimatlosigkeit, Emigration, Intoleranz eben: Das sind auch heutige Schlagwörter, die direkt in unsere Lebenswirklichkeit eingreifen. Genau während der Premiere dieser Oper erreichten uns Nachrichten von der Machübernahme des radikal-islamischen Regimes der Taliban in Afghanistan.
Foto © Maarten Vanden Abeele
Und all das wird eindrucksvoll in der weiten Bühne der Felsenreitschule bei den Salzburger Festspielen umgesetzt: Gleich vor Beginn werden bedrückend die Motive der Migranten, die eine bessere Welt suchen, wie auch Zahlen jener, die versucht haben, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen, um hier einen sicheren Hafen zu finden, auf die Felswand projiziert. All das sind keine bloß plakativen Verweise von Jan Lauwers, jenes belgischen Theatermanns, der für die Regie und Choreografie verantwortlich zeichnet. Zornig über die heutigen Verhältnisse wollte er inszenieren, wie er selbst ankündigte, weshalb auch lange drastische Folterszenen gezeigt werden. Es ist kein Abend zum Zurücklehnen, eher zum Nachdenken. Gemeinsam mit den Tänzern von Jan Lauwers‘ Needcompany sowie des Salzburger Tanzzentrums SEAD ist auch der Wiener Staatsopernchor auf der leergeräumten Riesenbühne ständig choreografiert in Bewegung, oft lange laufend und ständig auf der Flucht, aber auch anklagend. Dann bilden sich immer wieder geformte Menschengruppen und alles wirkt mit großer szenischer Eindringlichkeit und Unerbittlichkeit. Jeder hat sein Schicksal und ist doch auf das Kollektiv angewiesen. Unterstrichen wird die Dynamik auch durch live aufgenommene Videos, die dann verfremdet auf die Felswand, wie Wimmelbilder aussehend, projiziert werden.
Eindringlich und unerbittlich ist auch die Musik Luigi Nonos: Mit schneidender Schärfe, grellem Schreien, aber auch ungemein leiser und zerbrechlicher Schönheit wird sie von den Wiener Philharmonikern unter dem Spezialisten für neuere Musik Ingo Metzmacher mit allen Fassetten und großer Energie umgesetzt. Dabei wird reiches Schlagwerk in den seitlichen Arkaden der Bühne ausgelagert, was zusätzlich für einen starken Raumeffekt sorgt.
In allen elf Szenen des Werks spielt und singt die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor in der Einstudierung von Huw Rhys James die Hauptrolle als Kollektiv, aber auch in einzelne Stimmen zerklüftet, rhythmisch vertrackt und hochexpressiv. Mit dem blinden Poeten, dargestellt von Victor Afung Lauwers, hat der Regisseur noch eine Figur eingefügt, die im weißen Anzug zitternd auf einem Podest steht, seinen kritischen Text abliefert und von der johlenden Menge dann vertrieben wird. Und dann finden sich noch exzellente Sängerdarsteller wie Sean Panikkar als Emigrant, der seine extrem hohe Tenorpartie mit Bravour bewältigt. Sarah Maria Sun schafft die herausfordernde Partie seiner Gefährtin mühelos. Auch die kleineren Rollen sind mit Anna Maria Chiuri, Antonio Yang sowie Musa Ngqungwana exzellent besetzt.
Nach dem Spätwerk Prometeo, der nach innen gewandten „Tragödie des Hörens“, und dem anders akzentuierten Kraftwerk von Al gran sole carica d’amore folgt nun hier in Salzburg sein erstes Bühnenwerk. Das hat bis dato kein Opernhaus und kein Festival geschafft, alle drei Bühnenwerke Luigi Nonos auf die Bühne zu bringen. Das geschieht jetzt einzigartig bei den Salzburger Festspielen. Großer Jubel des Publikums.
Helmut Christian Mayer