O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Dana Schmidt

Aktuelle Aufführungen

Kurzweiliger Kehraus

MICHEL CAMILO
(Diverse Komponisten)

Besuch am
9. Juli 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Klavier-Festival Ruhr, Ruhrfestspielhaus Recklinghausen

Laut eigener Aussage hat Franz Xaver Ohnesorg 1999 Michel Camilo zum ersten Mal im New Yorker Jazzclub Blue Note als Pianist erlebt und war begeistert. Der Intendant sprach ihn an und konnte ihn für das Klavier-Festival Ruhr gewinnen. Nun kommt er zum 19. Mal über den großen Teich, um im nur etwa halbvollen Ruhrfestspielhaus Recklinghausen für das Abschlusskonzert des diesjährigen Festivals zuständig zu sein, das sich als ein kurzweiliger Kehraus entpuppt.

In Europa, gerade im deutschsprachigen Raum, ist Camilo nicht oft präsent. Deshalb ist sein Name hier eher Jazzenthusiasten geläufig. Vielleicht ist bekannt, dass er in Europa unter anderem bereits mit einigen berühmten Ensembles zusammenarbeitete: etwa mit der Danish Radio Big Band, der WDR Big Band, dem Luxembourg Jazz Orchestra, der Big Band der Wiener Volksoper und der Bulgarian Brass Association. Am Festival da Jazz in St. Moritz hat er auch teilgenommen. In Amerika hingegen ist er eine große Nummer. 1954 in der Dominikanischen Republik geboren, ist er seit seinem Debut 1985 in der New Yorker Carnegie Hall zu einer bemerkenswerten Person geworden. Die Liste der Stars, mit denen er bereits zusammenspielte, ist ellenlang. Darunter sind Größen wie Dizzy Gillespie, Paquito D’Rivera, George Benson, Herbie Hancock, Jaco Pastorius, Michel Petrucciani, Michael Brecker, Randy Brecker und Esperanza Spalding. Die Arbeit mit Jazzformationen unterschiedlicher Besetzung und Orchestern sind seine überwiegenden Betätigungsfelder. 27 Alben sind erschienen. Er hat sie als Solist, im Duo, im Trio, im Sextett, mit Big Band und mit Symphonieorchestern aufgenommen. Auch Film-Soundtracks kommen vor. Er ist im Crossover unterwegs, bewegt sich auf den Gebieten des Jazz, des Latin und der klassischen Musik. Die Ehrungen, die er erhielt, sind nicht an zwei Händen abzählbar. Unter anderem hat ihm die dominikanische Regierung die höchsten zivilen Auszeichnungen verliehen: Silbernes Großkreuz des Ordens von Duarte, Sánchez & Mella, Preis für kulturelle Persönlichkeit und Ritter des Heraldischen Ordens von Christoph Kolumbus. Zahlreiche Grammys und den Emmy Award heimste er ein.

An diesem Abend hat Camilo dreizehn mehr oder weniger bekannte Jazz-Latin-Stücke aus eigener Feder und von anderen berühmten Musikern mit im Gepäck. Vordergründig präsentiert er sich als ein Tausendsassa am Konzertflügel. Er hört nicht auf mit pianistisch-artistischen Höchstleistungen. Pausenlos kommen rasend schnelle Tonrepetitionen, Oktavläufe, Skalen, Arpeggien, Akkordkaskaden aus dem Instrument. Dabei rückt er kunstfertig harmonische Wendungen hin zur Chromatik, verlässt bisweilen die tonale Ebene. Vom Ragtime an bedient er in seinen Improvisationen sämtliche tradierten Jazzstile. Damit löst er nach jeder Nummer Begeisterungsstürme aus.

Foto © Dana Schmidt

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Camilo unter anderem von legendären Jazzpianisten wie McCoy Tyner viel gelernt hat. Diese Musiksprache kommt immer wieder vor. Benutzt er etwa im Bass Quinten, ist Keith Jarrett nicht weit weg. Auch die Stilistik Chick Coreas ist hin und wieder unüberhörbar. Ganz deutlich wird Camilos Hochachtung vor dem US-amerikanischen Musiker bei dessen berühmten Titel La Fiesta, den er hinsichtlich Rhythmik und Improvisationstechnik gekonnt wie sein Vorbild vorträgt. Diese Imitationen sind der Grund, warum er bei manchen Jazzern als Eklektiker eingestuft wird. Doch ist das Urteil zu pauschal. Denn er macht mehr daraus. Sein eigener Personalstil ist unverkennbar, wenn er Themen langsam entwickelt, einführt, deren Motive unter anderem collagiert oder verfremdet darstellt, bei jedem Stück die freien solistischen Abschnitte anders gestaltet.

Weitere Merkmale sind sein temperamentvoller Tastenzugriff und der pompös-dichte Klavierklang. Sein überbordendes Spiel löst zwar Jubelstürme aus. Doch darum geht es ihm wohl in erster Linie nicht. Denn offenkundig denkt und fühlt er in erster Linie nicht pianistisch. Vielmehr entwickelt er am Tasteninstrument orchestrale Klangbilder. So hört sich das Programm wie die Vorstellung von mächtigen Klavierauszügen an. Seien es Dave Brubecks Blue Rondo à la Turk, St. Thomas von Sonny Rollins, Pauls Desmonds Evergreen Take Five oder fünf eigene Nummern: Sie klingen wie von einer Big Band beziehungsweise einem Sinfonieorchester gespielt. Solch ein brillantes sinfonisches Klavierspiel macht ihm wohl so schnell niemand nach.

So ist das Publikum schließlich zu Recht ganz aus dem Häuschen. Keinen hält es mehr auf den Sitzen. Frenetische Beifallsbekundungen und begeistertes Grölen gehen Hand in Hand. Dafür bedankt sich Camilo mit Duke Ellingtons Standard Caravan, womit er noch einmal alle Register seines Könnens zieht.

Hartmut Sassenhausen