Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
DON QUIJOTE
(Jakob Nolte)
Gesehen am
29. Mai 2021
(Premiere am 7. Mai 2021)
Als vor 75 Jahren im Winter 1946/47 Bergleute der Zeche König Ludwig 4/5/ in Recklinghausen die ersten Lastwagen für Hamburger Theater mit Kohle von ihren Sonderschichten beluden, war damit der Grundstein für die Ruhrfestspiele gelegt. Doch der damalige Hamburger Bürgermeister Max Brauer stellte sich keine abgehobenen Festspiele für ein Bildungspublikum vor, er hatte eine andere Idee: „Festspiele inmitten der Stätten harter Arbeit. Ja, Festspiele im Kohlenpott vor den Kumpels“ – die Theaterfestspiele für die arbeitende Bevölkerung wurden eröffnet.
Damals haben viele Beobachter dieses Unternehmens, zu dem sich der DGB und die Stadt Recklinghausen zusammenfanden, das wohl für eine Utopie gehalten. Heute, im Jahre 2021 und nach einer 75-jährigen Erfolgsgeschichte gehören die Recklinghäuser Festspiele zu den ersten Adressen europäischer Theaterfestspiele mit einem Ruf, der längst das Ruhrgebiet und die Arbeiterschaft dort überschritten hat und einem engagierten Publikum eine bewährte Mischung aus klassischem Theater, modernen Inszenierungen und kreativen, experimentellen Entwürfen bietet, mit steigenden Zuschauerzahlen. Die besonderen Umstände des Corona-Jahrs 2021 zwingen die Ruhrfestspiele Recklinghausen (RR) zusätzlich zu neuen Formaten und Wegen, um ihr Publikum zu erreichen. So haben die RR 2021 unter dem Festival-Motto Utopie und Unruhe neben dem Bühnenprogramm ein digitales Programm entwickelt und bieten Aufführungen als digitale Aufzeichnungen ohne Publikum für den Empfang zu Hause an.
Wer sich das diesjährige Programm anschaut, wird viele neue Akzente entdecken, die die Handschrift des Intendanten Olaf Köck tragen. Dazu gehört ein erweitertes zirzensisches Programm und eine „Konferenz der Abwesenden“ von Rimini Protokoll, an der Zuschauer anstelle der abwesenden Referenten teilnehmen. Zu den „kleinen“ Formaten gehört der Klassiker Don Quijote nach dem Roman von Miguel de Cervantes, den Jan Bosse in der Übersetzung von Susanne Lange eingerichtet hat. Es ist eine Produktion vom Deutschen Theater Berlin und den Bregenzer Festspielen.
Foto © Arno Declair
Ritterromane sind „in“ zu einer Zeit um 16oo, in der der fast mittellose Junker Don Quijote sich auf den Weg macht, die Welt zu verbessern. In den Idealen der Ritterschaft, im Edelmut der Ritter sieht er das Ziel seines Tuns, wenn er sich mit dem Schlachtruf „Aventure – Aventure“ auf den Weg macht, um seine „Mitmenschen gegen das Böse“ zu verteidigen und ein goldenes Zeitalter einzuläuten. Doch schon sein Äußeres lässt ahnen, das seine fantastischen Ideen mit der Realität nichts zu tun haben, er wirkt wie ein in die Jahre gekommenes „Blumenkind“, das sich seine Welt zusammenfantasiert. Eine Blumenkrone auf dem Kopf, ein Fantasiekleid und Waffen, die zu vielem taugen, nur nicht dazu, einen Feind zu beeindrucken. Die rechte Kampfeshand schützt und schmückt ein martialischer Eisenhandschuh, sein Umhang – ein Wetterschutz oder ein durchsichtiges Kettenhemd? Jan Bosse, Regie, und Stéphane Laimé, Bühne, haben das Stück sparsam ausgestattet. Für die Bühne wählt Bosse einen weißen Container, einen Einkaufswagen mit zahlreichen Utensilien und viel Rauch aus der Unterwelt. Laimé steckt den Diener Sancho Panza in eine unsagbare Art Strumpfhose, die kaum Platz lässt für die überquellenden Körperrundungen des stabilen Knappen. Das einfache Bauermädchen, Quijotes Dulcinea, erscheint nur als Fantasiegestalt.
Die beiden Vollblutschauspieler Ulrich Matthes als Don Quijote und Wolfram Koch als Sancho Panza garantieren alle Schattierungen ihrer Figuren. Matthes als kindlich-naiver Idealist, als „maßlos kreativer Fantast“, lässt hier und da die Weltsicht der Blumenkinder aufscheinen, sein Beiname „Der Ritter von der traurigen Gestalt“ ist Teil seines Kostüms. Kochs Sancho Panza spielt quasi den Gegenpart, der „seinen“ Edelmann immer wieder, teils mit drastischen Mitteln, in die harten Realitäten zurückholt, aber auch seinen eigenen Witz spielt. Langes Übersetzung gibt den beiden Darstellern alle Chancen, ihre Sprechkunst zu demonstrieren. In ihren Monologen und Dialogen können sie „eine ganze Welt erfinden“ und so die Zuschauer an ihren Fantasmen teilhaben lassen. Und die geistern durch alle möglichen und unmöglichen Lebenslagen der Möchtegern-Ritter, die kaum zu beschreiben, eben fantastisch und voller Witz sind.
Matthes und Koch gelingt es durch ihr intensives Spiel und ihre Sprechkultur, die Spannung der Aufführung auch vor dem heimischen Bildschirm aufrecht zu halten. Gleichwohl werden viele Zuschauer ihre Theateratmosphäre vermissen, die Reaktionen auf berührende, komische oder überraschende Elemente und die Chancen des direkten, leisen Austausches mit dem Nachbarn. Auch ein textlich und schauspielerisch überzeugender Theaterabend bleibt für viele Zuschauer, die Besucher, ein Streaming-Abend …
Horst Dichanz