O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Sabine Schneider, Eva Vogel, Talia Or, Michael Siemon, Jakob Kleinschrot und Peter Schöne - Foto © Jürgen Paust-Nondorf

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Am Siedepunkt

GALAKONZERT
(Diverse Komponisten)

Besuch am
6. Mai 2023
(Einmalige Aufführung)

 

Konzertchor Ratingen, Stadthalle Ratingen

Die Stadthalle in Ratingen ist derzeit von Baustellen förmlich eingekesselt. Da muss man sich schon auskennen, wenn man dorthin finden will. Aber an diesem Abend sind wohl ohnehin überwiegend Einheimische zu Gast. Die allerdings quer durch alle Bevölkerungs- und Altersschichten, wie es den Anschein hat. Die alten Menschen sind dabei besonders stark vertreten, aber dafür gibt es diesmal auch einen stichhaltigen Grund. Denn viele von ihnen haben die Geschicke des Konzertchors Ratingen seit Jahrzehnten verfolgt, und es wird nicht wenige heute Abend unter den Gästen geben, die ihn noch als Chor 73 kennen.

Am 15. September 1973 wurde der Neubau des Stadttheaters Ratingen eingeweiht. Daraufhin befanden 23 Bürger, dass die Stadt auch einen Chor brauche. In dem heute nicht mehr existierenden Café Feit fand die Gründungssitzung für den Chor 73 statt. Als musikalischer Leiter des Chors wurde der damals 28-jährige Musiklehrer Josef A. Waggin berufen, zu der Zeit der jüngste unter den Choristen. Er machte seine Arbeit gut – 40 Jahre lang. Aus dem Chor 73 wurde 2015 der Konzertchor Ratingen. Vor zehn Jahren übergab Waggin den Dirigentenstab und einen etwas in die Jahre gekommenen Chor an Thomas Gabrisch. Der ist Leiter der Opernklasse an der Robert-Schumann-Hochschule in Düsseldorf und als internationaler Konzertdirigent tätig. Und er hat Visionen. Nach zehn Jahren hat er den Chor mit seinen heute rund 80 Mitgliedern zu einem hochmotivierten Kollektiv aufgebaut, das regelmäßig auf Konzertreisen geht und eine Qualität beweist, die es über die Landesgrenzen hinaus bekannt gemacht haben. Einer der wichtigsten Schritte war rückblickend sicher die Gründung der Sinfonietta Ratingen, eines eigenen Orchesters, das seine Frau, Sabine Schneider, managt. Damit ist sichergestellt, dass das Orchester nicht nur auf die Bedürfnisse des Chors maßgeschneidert zusammengestellt wird, sondern auch mit höchstmöglicher Spielfreude agiert. Und dann wird der Chor plötzlich 50 Jahre alt und tritt an, um zu beweisen, dass es jetzt erst richtig los geht.

Foto © Jürgen Paust-Nondorf

Das Galakonzert, das der Chor am heutigen Abend veranstaltet, wird nicht nur eine musikalische Zeitreise durch die vergangenen fünf Jahrzehnte, sondern auch der Beginn der Feierlichkeiten über das ganze Jahr hinweg – und der Beginn neuer Kooperationen, deren Folgen heute noch gar nicht absehbar, aber bei einer ersten Geschmacksprobe äußerst vielversprechend sind.

Die Stadthalle ist bis auf nahezu den letzten Platz besetzt. Der Hintergrund der Bühne ist mit dunkelblauem Stoff ausgeschlagen, auf dem LED-Leuchten den nächtlichen Sternenhimmel andeuten. Das sieht sehr edel aus. Und die Lichtgestaltung unterstreicht mit feinen Abstufungen und Reflexen den vornehmen Charakter, soweit das mit den technischen Möglichkeiten des Hauses möglich ist. Gabrisch tritt im Frack mit weißer Fliege ans Pult, unter dem sich die Partituren stapeln. 50 Jahre Chorgeschichte zu durchstreifen, erfordert offensichtlich eine Menge an Papierkram. Das leidenschaftliche Dirigat an diesem Abend legt allerdings den Verdacht nahe, dass hier nur mit doppeltem Netz gearbeitet wird.

Mit Alles was Odem hat aus dem Lobgesang der zweiten Sinfonie von Felix Mendelssohn Bartholdy gelingt der glanzvolle Auftakt, der einer solchen Aufführung gebührt und wird mit dem Solo der Sopranistin Sabine Schneider, seit langem Spezialistin für Kirchenmusik, mit Lobe den Herrn meine Seele zum gebührenden Abschluss gebracht.

Für ein Galakonzert gehört sich auch eine Moderation – oder? Man kann das diskutieren. Der Chor jedenfalls hat für diesen Abend einen Moderator eingeladen, und mehr soll dazu auch nicht gesagt werden.

Das erste Werk, das der Chor 1975 aufführte, war Georg Friedrich Händels Dettinger Te Deum, aus dem Herr, Gott! Dir sei Lob! erklingt, ehe es mit dem Magnificat Johann Sebastian Bachs weitergeht. Sabine Schneider und Tenor Jakob Kleinschrot singen das Duett Et misericordia, um dann mit dem Chor Fecit potentiam zu intonieren. Weiter geht es mit dem Magnificat von Franz Schubert, aus dem Deposuit und Gloria patri ausgewählt werden. Eindrucksvoll klingt aus Die Jahreszeiten von Joseph Haydn die Darbietung von Schneider, Kleinschrot und dem hinzugetretenen Bariton Peter Schöne, Sie steigt heraus, die Sonne. Eine der schönsten Erinnerungen aus dem Chorleben gilt sicher Mendelssohn Bartholdys Elias, denn mit diesem Oratorium verbindet sich eine Reise nach Israel. Da gewinnt Alsdann wird euer Licht noch einmal eine ganz besondere Bedeutung.

Wem es jetzt schon ein wenig sehr kirchenmusikalisch zugeht, wird mit einem wahren Bonbon verwöhnt, wenn Schöne das Podium betritt, um Kommt mit Zacken aus Mendelssohn Bartholdys weltlicher Kantate Walpurgisnacht zunächst allein vorzutragen, ehe der Chor übernimmt. Und nein, es stimmt nicht, dass der Komponist dieses Solo eigens für Schöne komponiert hat – aber es klingt sehr danach. Ein wunderbarer Vortrag. Auch der Chor bleibt weiterhin in Höchstform, wenn er das Dies irae aus dem Requiem von Wolfgang Amadeus Mozart schon fast überirdisch erschallen lässt. Mit Tuba mirum, ebenfalls aus dem Requiem, treten dann noch einmal Schneider, Kleinschrot, Schöne und die Mezzosopranistin Eva Vogel auf, um damit auch den deutschsprachigen Teil zu beschließen. Für die italienischen Komponisten hat sich die Haustechnik etwas ganz Besonderes einfallen lassen. Es dauert allerdings noch einen Moment, ehe man es bemerkt.

Für den italienischen Stimmklang in Giuseppe Verdis Requiem sind noch einmal andere Qualitäten gefragt. Und so treten Sopranistin Talia Or und Tenor Michael Siemon zum Kyrie an, das spätestens beim „eleison“ wahrhafte Opernzüge erlangt. Während der Chor auch hier das Dies irae anstimmt, steigt die Temperatur im Saal immer höher. Ein wunderbarer Einfall lenkt noch einmal kurz ab. Da lässt Gabrisch die Bläser des Jugendsinfonieorchesters der Tonhalle Düsseldorf im Saal auftreten und erreicht so eine ungewöhnliche wie herausragende Klangwirkung. Es ist die erste Zusammenarbeit mit den Jugendlichen und ihr Beginn. Unter den Scheinwerfern auf der Bühne wird es zu diesem Zeitpunkt schon unerträglich heiß, aber auch das Publikum findet die Wärme inzwischen eher ungemütlich. Da bekommt das Inflammatus est aus Gioachino Rossinis Stabat Mater plötzlich eine ganz neue Bedeutung, und das liegt eindeutig nicht mehr daran, dass Or mit dem Chor den Besuchern einheizt. Nach In sempiterna saecula verlassen die Gäste den Saal fluchtartig.

Stephan Langenberg – Foto © Jürgen Paust-Nondorf

Die Ankündigung einiger Besucher in der Pause, den zweiten Teil bei solchen Temperaturen entfallen zu lassen, bleibt eine leere Drohung. Zu vielversprechend ist das Programm des bevorstehenden Teils. Im inzwischen ein wenig gelüfteten Saal ruft der Chor aufbrausend das Glück an, wenn er aus den Carmina burana von Carl Orff zitiert. Der richtige Auftakt, um das Publikum wieder zur Konzentration finden zu lassen. Und die lohnt sich in mehrfacher Hinsicht. 1996 wurde die Misa Tango von Martin Palmeri uraufgeführt. Hier sieht das Gloria ein Alt-Solo vor, das Vogel brillant interpretiert. Zur Verstärkung kommt Stephan Langenberg am Akkordeon hinzu. Viele der Besucher haben den Konzertchor mit etlichen der Werke ja selbst in der Stadthalle erlebt, und da wird manche schöne Erinnerung wach. Das gilt auch für Canción, ein Auftragswerk des Chores an Joaquín Clerch, aus dem die Choristen nun noch einmal Yo me acostumbro, amor vortragen. Dass es dem Chor sehr gut ansteht, sich auch mit der Gegenwartsliteratur zu beschäftigen, beweist er mit den folgenden Auszügen aus dem Magnificat von Palmeri. Da gibt es mit Quia respexit nicht nur ein edles Duett von Schneider und Vogel, sondern im Omnes generationes entwickelt der Chor eine Dynamik, die einen unwillkürlich an eine der großen Szenen in West Side Story erinnern lässt.

Doch schon geht es zurück zu den alten Meistern. Zum Cuando corpus aus dem Stabat mater von Antonín Dvorák versammeln sich Or, Vogel, Schöne und Siemon auf der Bühne. Als sie auch in das Amen einstimmen, kann man sich der Begeisterung nicht mehr entziehen. Und nimmt gern ein weiteres Stück italienischen Messgesangs in Kauf. Qui tollis aus der Messa di Gloria von Giacomo Puccini klingt weniger nach himmlischer Verzückung als vielmehr nach italienischer Hymne. Und in einem der Verismo-Filme hätte diese Musik sicher für einen Zwischenapplaus im Kino gesorgt. Auch in Ratingen sorgt das Stück für Jubel, ehe dem Abend endlich echter Operettenglanz auferlegt wird. Und zwar in einer hübsch gehörigen Portion.

Das Finale des zweiten Aktes der Fledermaus ist ja eine ganze Sammlung von Operettenschlagern, und der Konzertchor mit seinen Gästen und einer großartig aufgelegten Sinfonietta lassen es nicht an schillernden Farben missen. Ob Im Feuerstrom der Reben, Herr Chevalier, ich grüße Sie oder Brüderlein und Schwesterlein – hier lassen die Akteure die Funken sprühen und Champagner-Korken knallen. Der rechte Abschluss für einen solch großen Abend. Abschluss? Nicht ganz. Eine Zugabe darf es noch sein, die Or und Siemon in prächtiger Italianità schmettern. Nichts auf dieser Welt ist von Interesse außer dem Vergnügen, befand Giuseppe Verdi in dem Trinklied Libiamo ne’lieti calici in seiner Oper La traviata – dem ist nichts hinzuzufügen.

Oder vielleicht doch. Der Konzertchor Ratingen unter der Leitung von Thomas Gabrisch hat sich an diesem Abend selbst übertroffen. Da darf man sich schon auf den 17. September freuen, wenn der Konzertchor gemeinsam mit dem Chor der Landesregierung und dem Jugendsinfonieorchester der Tonhalle Ein deutsches Requiem von Johannes Brahms in der Düsseldorfer Tonhalle aufführen wird. Und vielleicht finden sich ja bis dahin auch die von den Choristen liebevoll für das heutige Programmheft zusammengetragenen historischen Momente des Chores auf dessen Website wieder.

Michael S. Zerban