O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Jürgen Paust-Nondorf

Aktuelle Aufführungen

Wenn wirklich alles stimmt

CARMINA BURANA
(Carl Orff)

Besuch am
20. November 2021
(Einmalige Aufführung)

 

Konzertchor Ratingen, Stadthalle Ratingen

Carl Orff macht es einem nicht einfach. Seine Nähe zum Nationalsozialismus macht ihn bis heute verdächtig. Allzu gut ging es ihm im so genannten Dritten Reich, zu zahlreich die unreflektierten Ehrungen im Nachkriegsdeutschland, sagen die einen. Andere glauben, Indizien dafür gefunden zu haben, dass er sich insgeheim eher über die „Nazis“ lustig gemacht habe. Und die dritten sagen, dass es völlig egal sei, wer er gewesen ist, weil die Carmina Burana einfach großartig sind. Thomas Gabrisch, Künstlerischer Leiter des Konzertchors Ratingen und Professor für die Opernklasse an der Düsseldorfer Robert-Schumann-Hochschule, hat sich deshalb intensiv mit dem Komponisten und der Entstehungsgeschichte des Werks auseinandergesetzt. Ausschlaggebend war für ihn dabei die Lektüre eines Briefwechsels zwischen Orff und seinem Chorfreund Michel Hofmann, dem „Librettisten“ der Carmina Burana, in dem sich der Komponist über die neuen Machthaber lustig macht. Da konnte es mit der Nähe zum Regime nicht allzu weit her sein, vermutet Gabrisch. Und entschloss sich, eines der meistgespielten Chorwerke der Neuzeit mit seinem Chor in der Ratinger Stadthalle aufzuführen.

Dass Veranstaltern schon der Verdacht einer Unzulänglichkeit bei einem Komponisten reicht, ist nicht neu. Und so gibt es die Aufführungen der Carmina Burana nicht mehr so häufig wie in den Jahren nach dem Krieg. Zahlreiche, durchaus mediokre Aufführungen haben dem Werk zusätzlich geschadet. Hinzukommt, dass die Aufführung der Originalfassung ziemlich aufwändig ist, verlangt sie doch ein großes Orchester. Auch der Konzertchor Ratingen verlegt sich auf eine „reduzierte“ Fassung, die allerdings sehr viel spannender anmutet. In der Dumeklemmerhalle, der Ratinger Stadthalle, soll die Fassung für zwei Klaviere und fünf Schlagwerke erklingen. Orff hatte sie selbst arrangiert, um mehr Laienchören eine Aufführung zu ermöglichen. Ein Kalkül, das zunächst nicht so recht aufging. Für Gabrisch eine Vorlage. Schließlich gibt es an der Robert-Schumann-Hochschule eine Schlagzeug-Klasse, die Bert Flaas leitet. Und der sagt ihm fünf Schlagwerker zu. Damit ist die Entscheidung klar.

Peter Schöne mit Chor – Foto © Jürgen Paust-Nondorf

Und die Zugkraft des Titels hat beim Publikum an nichts verloren. In Scharen strömen die Menschen. Das können auch explodierende Infektionszahlen nicht verhindern. Für den Chor, der für alle Sicherheit garantiert und dafür ein Bataillon an ehrenamtlichen Helfern einsetzt, ein Befreiungsschlag. Der Saal ist annähernd voll. Stolz marschiert der Chor auf eine Bühne, die nicht nur schön arrangiert, sondern auch bis auf den letzten Quadratzentimeter ausgeplant ist. Schlussendlich ist sogar noch Platz für eine dekorative Topfpflanzenreihe an Farnen, die an den Naturbezug des heutigen Abends erinnert.

Kompliment auch für das Programmheft, das die Texte der Beurer Lieder zweisprachig wiedergibt. Schade, dass der Zuschauerraum nach Konzertbeginn im Schwarz versinkt. Eine einzelne Dame immerhin hat die Lösung: Einfach die Handy-Taschenlampe einschalten, und schon kann man in Ruhe mitlesen. Licht heißt nicht nur sehen, sondern auch gesehen werden. Alle anderen verlassen sich auf den Klang der Stimmen. Obwohl. Auch das wäre sicher eine interessante Lichtgestaltung gewesen, wenn alle auf diese Weise mitgelesen hätten. Spaß beiseite.

Es wird ein Abend der Superlative. Der Chor ist einmal mehr genial einstudiert von Thomas Gabrisch, der an diesem Abend über sich selbst hinauswächst. Abgezirkelte Bewegungen, die einem Militär-Musikcorps Eindruck verschafft hätten. Engagiert bis in die Haarspitzen und präziser als eine Maschine. Großartig. Die Akteure auf der Bühne genießen die minutiöse Führung, die mit so viel Spaß und Begeisterung durch den Abend führt. An den Klavieren verlassen sich Soomija Park und Rie Sakai ganz auf die Stabführung und begeistern mit ihrem wunderbaren Spiel. Leon Günther, Julian Jaspers, Florian Köhn, Max Stracke und Maximilian Schröder bedienen als Studenten souverän die Schlagwerke. Da möchte einem manches Mal ob der Präzision der Atem wegbleiben. Flaas kann auf seine Studenten stolz sein, die vor kaum einem Perkussionsinstrument zurückschrecken.

Am Flügel: Rie Sakai und Soomija Park – Foto © Jürgen Paust-Nondorf

Für viel Vergnügen sorgt ein ganz besonderer Gast. Der bodenständige Peter Schöne mit Stimme von Weltrang ist eigens für diesen Abend aus Berlin angereist. Und er zeigt den Ratinger Gästen, warum nicht nur seine Stimme in der ganzen Welt begehrt ist. Mit viel schauspielerischem Talent gibt er im Frack den angetrunkenen Mönch. Keine Übertreibungen, stattdessen feinsten Humor gilt es hier zu erleben. Grandios. Dass Schöne darüber hinaus seine Stimme Kapriolen spielen lässt, indem er sie in unglaubliche Höhen führt, ist das Sahnehäubchen des Abends. Einen ähnlich feinen Auftritt zeigt Joaquin Asiáin mit dem Schwanengesang, den er bereits mehr als 200 Mal gesungen hat. Weil er aus dem Dunkel im Zuschauerraum auftaucht, geht ein Teil der Wirkung verloren. Aber das ist zu diesem Zeitpunkt wirklich jedermann egal. Als dritte im Bunde erscheint Sabine Schneider im Silberlamé-Kleid. Sie hat, man kann es nicht anders sagen, einen glänzenden Auftritt. Die Pianissimi gelingen ebenso gut wie die Koloraturen. Und ihre Freude über die Avancen des Baritons überträgt sich auf das Publikum.

Ein besonderes Erlebnis serviert der Mädchenchor der Liebfrauenschule, in deren Aula der Konzertchor probt und den André Schürmann mit besonderer Sorgfalt einstudiert hat. Hochdiszipliniert harren die Schülerinnen aus, um ihren vergleichsweise kurzen Auftritt mit viel Begeisterung zu absolvieren. Darunter so manche Stimme, von der man sich wünscht, sie in späteren Jahren im Konzertchor wiederzufinden. Der agiert mit überzeugender Präzision, genießt die Zusammenarbeit mit den Solisten und singt die lateinischen und mittelhochdeutschen Texte, als gehörten sie zu seinem üblichen Sprachgebrauch.

Das Publikum springt von den Stühlen, applaudiert minutenlang. Ja, es war ein atemberaubender Abend, der hoffentlich viele Menschen animiert, am 23. Dezember in die Stadthalle zurückzukehren, wenn der Konzertchor Ratingen zum Weihnachtskonzert einlädt.

Michael S. Zerban