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LA VOIX HUMAINE/POINT D’ORGUE
(Francis Poulenc, Thierry Escaich)
Gesehen am
1. Juni 2021
(Premiere/Uraufführung, Stream)
Wie so oft, wird auch am Théâtre des Champs-Élysées der Einakter La voix humaine – die menschliche Stimme – mit einem zweiten Werk kombiniert, um den Abend zu füllen. Zwei Jahre nach seinem großen Erfolg Dialogues des Carmélites schreibt Francis Poulenc im Jahre 1958 La Voix Humaine. Er fällt in die letzten Jahre seines Lebens, die von Melancholie überschattet sind. Der Oper liegt ein 1930 entstandener Text Jean Cocteaus zu Grunde. Derselbe Text war schon 1947 von Roberto Rosselini mit Anna Magnani verfilmt worden. Es ist das verzweifelte Telefongespräch einer hochgradig neurotischen Frau mit ihrem Liebhaber, der sie nach fünf Jahren verlässt, um eine andere zu heiraten. Der Erfolg des Werks hängt weitgehend vom stimmlichen, aber auch vom schauspielerischen Können und der Persönlichkeit der Sängerin ab.
Das Théâtre des Champs Elysées hat sich für diese Oper an die Hauptakteure der vor ein paar Jahren im selben Haus erfolgreichen Aufführung von Francis Poulencs Dialogues des Carmélites gewandt: an den Dirigenten Jérémie Rohrer, den Regisseur Olivier Py und die Sängerin Particia Petitbon.
Die Inszenierung von Olivier Py beginnt in einem Schlafzimmer, ganz in rot und schwarz gehalten, eher düstere Beleuchtung durch einen Empire-Lüster an der Decke, John Everett Millais‘ Ophelia-Gemälde an der Wand, schwere Samtvorhänge. Man fühlt sich gefangen, beengt. Dieses Zimmer dreht sich dann vertikal um seine Achse, sodass Sie dann irgendwann „aussteigt“ und auf einer trostlosen Straße unter zwei trostlosen Straßenlaternen landet. Sie trägt ein langes rotes Kleid und später einen offenen schwarzen Mantel darüber. Sie spricht, aber das Gespräch wird immer wieder durch Störungen in der Leitung unterbrochen. Sie argumentiert, lügt, verteidigt sich, erklärt ihre Liebe, denkt an Selbstmord. Dazwischen einen Schluck Alkohol aus einem Fläschchen, das Sie in der Manteltasche trägt. Und man hört nur Sie, was ihre Einsamkeit unterstreicht. Doch musikalisch ist Sie nicht allein, denn Er kommt gewissermaßen durch das Orchester zum Ausdruck, so dass man fast erraten kann, was er sagt. Sie schwankt zwischen lyrischen Erinnerungen und hysterischen Ausbrüchen hin und her. Der lange Monolog ist von unglaublicher Intensität. Patricia Petibon zieht alle Register. Ihr natürlich leuchtend rotes Haar ist wie für die Rolle geschaffen. Stimmlich sehr beweglich, bleibt sie immer kontrolliert, im Sprechgesang, in den lyrischen Momenten und auch in den fortissimo-Ausbrüchen, die durch gehackte Orchester-Akkorde unterstrichen werden, und passt sich doch dem Text ganz an. Schauspielerisch, in ihrer Mimik und Gestik sprunghaft, ist sie erschreckend und bewundernswert glaubhaft in dieser Neurose, die manchmal fast an Wahnsinn zu grenzen scheint.
Foto © Vincent Pontet
Für den zweiten Teil des Abends hat das Théâtre des Champs-Élysées eine Uraufführung vorbereitet. Thierry Escaich ist vielfach ausgezeichneter Absolvent des Pariser Konservatoriums. Wenn er über die Orgel zur Musik gekommen ist und viel für Orgel geschrieben hat, so hat sich sein Repertoire bald ausgedehnt. Dennoch bleibt er in der Tradition der französischen Musik. „Mein harmonisches Universum, post-tonal, polytonal oder wie immer man es nennen will, ist Debussy, Ravel, Poulenc, Dutilleux, Honegger. Man kann wirklich nicht von einem Bruch sprechen, es herrscht eine stilistische Kontinuität die natürlich durch meine Eigen-Persönlichkeit bereichert wird.“ Diese, seine dritte Oper, sieht er als „eine Art psychologischen Thriller und gerade das nährt und belebt meine Musik in Point d’Orgue. Die drei Personen der Handlung sind kraftvoll und jedes Wort, jeder Satz des Textes inspiriert mich und lässt eine Vielfalt von Harmonie-Änderungen und musikalischen Stimmungswechsel zu … Doch meine Absicht ist es, musikalisch den Text von Olivier Py umzusetzen.“ Die Harmonie ist im Wesentlichen tonal, voller Dissonanzen, inspiriert von Jazz oder Tango. Und laut des Komponisten, nur als dramatische Burleske, nicht wegen des Inhalts oder als Anspielung auf alte Musik, schwebt kaum erkennbar über einigen Szenen Luthers Weihnachtschoral Vom Himmel hoch, da komm ich her.
Sein Auftrag des Théâtre des Champs-Élysées verlangt vom Komponisten dasselbe Instrumentarium wie das von Francis Poulenc in La Voix Humaine benutzte, in anderen Worten ein klassisches Symphonie-Orchester. Doch hat Escaich das Orchester im Raum verteilt, so dass Sonoritäten aus verschiedenen Ecken des Bühnenraums kommen.
Der Text stammt vom Regisseur und Theaterschriftsteller Olivier Py, und es ist in gewisser Weise eine Fortsetzung von Cocteaus Szene, die ja ohne richtigen Abschluss zu Ende gegangen ist. Er ist intellektuell anspruchsvoll und voller literarischer, musikalischer und philosophischer, aber auch zeitgenössisch-sozialer Anspielungen. Er lebt völlig depressiv in einer schmutzigen kleinen Kammer, zusammen mit dem Anderen. „Ich wollte vor allem die Silhouette dieser Frau, in all ihrer Pathologie und Abhängigkeit ihrem Ex-Liebhaber gegenüber, aufwiegen und triumphieren lassen. Der Andere ist dabei gewissermaßen der Schatten von Ihm. Und was ist ihre Beziehung? Der Andere ist sowohl sein dealer, sein Scharfrichter und … vielleicht sein Geliebter. Das braucht ja nicht ausdrücklich zu sein. Jedenfalls besteht zwischen ihnen eine sadomasochistische Beziehung, die eher psychologisch als physisch ist“. Die Beziehung von Ihr zu Ihm hat sich nun völlig umgedreht. Jetzt ist Sie ist die Starke, die ihn retten will, und die ihn schließlich verlässt und sich frei fühlt.
Bei allen drei Darstellern weiß man nicht, was man zuerst loben soll, die stimmliche oder die schauspielerische Leistung. Jean-Sébastien Bou singt mit ausdrucksstarker Baritonstimme und spielt fast ekelerregend gut den masochistischen, haltlosen, völlig den Drogen, dem Alkohol und vor allem seinem Anderen verfallenen, manchmal reglos apathischen, lebensüberdrüssigen Er. Er schleppt sich dabei wie ein Zombie in einem orientalischen Blumenschlafrock durch die Gegend. Cyrille Dubois, in Glitzerjacke, singt mit penetrantem Tenor den Anderen, eine Art unsauberen, geldgierigen, mit hundert schmutzigen Wässerchen der Gosse gewaschenen, nihilistischen Mephisto. Wenn sie nicht perverse Spielchen spielen, amüsieren sie sich köstlich zusammen oder fragen sich, ob sie ihren Hund Schopenhauer, Heidegger oder Feuerbach nennen sollen. Dabei dreht sich auch hier wieder ihr Zimmer mehrmals vertikal um die eigene Achse. Mitten in der Szene taucht dann Sie wieder auf. Patricia Petitbon ist auch hier stimmlich beweglich und unglaublich präzise in der oft schwierigen Stimmführung. Doch schauspielerisch ist Sie nun keineswegs mehr neurotisch, sondern ruhig und bestimmt. Und als es ihr nicht gelingt, ihn zu überreden, mit ihr zu kommen und sich retten zu lassen, nimmt sie in einer musikalisch sehr schönen lyrischen Passage Abschied von ihm und erkennt sich nun die eigene Freiheit zu. Während der Andere mit einer Flasche Champagner ins Bordell geht, bleibt Er allein zurück und schaut elegisch ins Schneegestöber hinaus. Die Oper klingt pianissimo im Orchester aus.
Thierry Escaichs Orchestermusik ist reichhaltig und klangvoll und begleitet sehr wirksam das Geschehen auf der Bühne. Man ist hin und wieder an Stravinsky erinnert. Es dirigiert souverän Jérémy Rohrer in den beiden Opern das Orchestre National Bordeaux Aquitaine.
Dem Théâtre des Champs-Élysées ist hier wieder ein großer Wurf gelungen.
So sehr man bedauern kann, dass dem Publikum diese hervorragende Aufführung nur über den Bildschirm gezeigt werden konnte, so muss man doch zugeben, dass die Feinheiten vor allem der schauspielerischen Leistung der Ausführenden durch die close-ups besser erkennbar werden.
Diese Aufführung wurde am 5. März 2021 aufgezeichnet und man kann sie ab dem 1. Juni auf Anfrage beim Théâtre des Champs-Élysées im Internet abspielen.
Alexander Jordis-Lohausen