O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Agathe Poupeney

Aktuelle Aufführungen

Liùs Liebestod

TURANDOT
(Giacomo Puccini)

Besuch am
6. November 2023
(Premiere am 4. Dezember 2021)

 

Opéra national de Paris, Bastille

In der alten orientalischen Turandot-Fabel stehen einander zwei Frauengestalten, zwei sehr verschiedene Frauengestalten als Hauptpersonen gegenüber. Einerseits die schöne, kalte, unnahbare, psychopathische Kaisertochter Turandot, die in ihrer eigenen männermordenden Welt lebt, die nur nimmt und nichts gibt. Und andererseits die bis zur Selbstaufgabe helfende und liebende Sklavin Liù, die sich sogar den Tod gibt, um ihre Liebe nicht zu verraten. In dieser, Puccinis letzter Oper verkörpert Lui noch einmal zusammengefasst Puccinis Archetypen der Mimì, der Madama Butterfly, und der Suor Angelica. Der Komponist widmet ihr die ergreifendste Szene der Oper, Liùs Tod. Das Gegenstück dazu, die Schlussszene mit der „Bekehrung“ Turandots zur Liebe ist eher enttäuschend und nicht ganz überzeugend. Sie stammt ja auch nicht von Puccini, denn er ist nach dem Komponieren von Lius Tod selbst gestorben. So werden wir leider nie erfahren, wie er diesen ausschlaggebenden Abschluss der Oper vertont hätte.  Zwischen den beiden Frauengestalten steht Prinz Calàf, der mit eisernem Willen entschlossen ist, die eiskalte, faszinierend-schöne Turandot zur Liebe zu bekehren. Doch wird er durch diesen Wahn gefühllos gegenüber der selbstlosen Liebe Liùs.

Wenige Opernhäuser bringen im Laufe eines Spielplans nur Neuproduktionen auf die Bühne, die meisten greifen, um Kosten zu sparen, auch auf schon in früheren Jahren inszenierte Werke zurück, was nicht immer glücklich ist. Die vorliegende Wiederaufnahme jedoch ist mit viel Vorfreude erwartet worden. Robert Wilsons Inszenierung der Turandot, die 2018 in einer Koproduktion mit dem Teatro Real in Madrid entstand, ist inzwischen zu einem Klassiker geworden. Mag das bei seiner Madama Butterfly etwas gestört haben, so sind seine eiskalte, aber sehr ästhetische Atmosphäre und seine scharf geschnittenen, geometrischen Linien hier der ideale Ausdruck der Turandot-Geschichte. Seine statischen Personen werden zu Symbolfiguren auf dem Schachbrett, das die Welt bedeutet.

Auf der Bühne führen von dunkel bis hell stetig, auch farblich wechselnde Beleuchtungen und teils sich bewegende, teils ruhende geometrische Kulissenteile zu in raschem Ablauf sich ändernden Atmosphären und ergeben bühnenwirksame Schattenrisse.

Die Kostüme sind stilisiert, zeitlos, in schwarz, grau und weiß, nur Turandot ist von Kopf bis Fuß in leuchtendes Karminrot gehüllt. Die mit Samurai-Rüstungen gepanzerten Krieger wirken wie exotische Insekten.

In einer genau ausgeklügelten Choreografie begegnen sich drei Gruppen auf der Bühne: der mächtige Chor im Hintergrund, die vier Hauptprotagonisten ganz in hellem Grau, die sich langsam mit steifen, roboterhaften Gesten bewegen, und dazwischen als letzter Überrest der Opera buffa und der Commedia dell’arte die drei Minister Ping, Pang, Pong ganz in dunkelgrau, aber weiß geschminkt, die trippelnd, hüpfend, gestikulierend als groteske Clowns marionettenhaft über die Bühne gaukeln und die statische Atmosphäre auflockern. Darüber hängt im zweiten Akt der Kaiser als der „Sohn des Himmels“ auf einer Schaukel hoch über der Bühne.

Für Puccini ist Liù vielleicht die eigentliche Zentralperson des Dramas. Es ist daher umso erfreulicher, dass Ermonela Jaho, heute eine der größten Tragödinnen des internationalen lyrischen Theaters, hier die Rolle übernommen hat. Ob als Violetta oder als Cio-Cio-San singt sie, liebt sie und stirbt sie auf der Bühne mit jeder Faser ihres Wesens. Auch gehört sie zu jenen Sängerinnen, die nie aufhören, an ihrer Stimme und an ihrem szenischen Ausdruck zu arbeiten, um sie noch weiter zu entwickeln und zu verfeinern. Und so überrascht sie immer wieder von Neuem durch den Reichtum und durch die Subtilität ihres stimmlichen Ausdrucks. So ist auch die oben erwähnte Szene von Lius Tod Tanto amore segreto e inconfessato hier besonders bewegend. Tamara Wilson singt Turandot mit hoch dramatischem, gut kontrolliertem Sopran, aber weniger subtil als kraftvoll, was bedauerlich ist in dieser so statischen Personenregie, bei der die Stimme praktisch das einzige Ausdrucksmittel des inneren Befindens bleibt. Ihre Erzählung vom tragischen Schicksal ihrer Vorfahrin In questa Reggia, or son mill’anni e mille ist sehr eindrucksvoll. Brian Jagde singt mit leuchtendem, aber etwas verhaltenem Heldentenor den besessenen Prinzen Calàf. Er erfreut uns mit einer schönen Wiedergabe seiner berühmten Arie Nessun dorma. Ganz wie ein alttestamentarischer Prophet mit langem, weißem Bart erscheint Mika Kares und singt mit warm timbriertem Bass den gestürzten König Timur. Carlo Bosi ist erhaben der vom Himmel herabschwebende Kaiser. Florent Mbia, Maciej Kwasnikowski und Nicholas Jones erheitern als die drei Minister. Und Guilhem Worms ist ein würdiger Mandarin. Der Chor und der Kinderchor der Pariser Oper, bereichert durch die Maîtrise des Hauts-de-Seine, hervorragend einstudiert von  Ching-Lien Wu, ergeben einen mächtigen Klangkörper.

Solisten, Chor und das Orchester der Opéra national de Paris stehen unter der bewährten Leitung von Marco Armillato, der in den dramatischen Szenen das Orchester toben lässt, aber dann auch wieder Liù die nötige Lyrik einräumt.

Das Publikum ist hoch erfreut.

Alexander Jordis-Lohausen