O-Ton

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Foto © Vincent Pontet

Aktuelle Aufführungen

Schöne Schlafwandlerin mit verpatztem Finale

LA SONNAMBULA
(Vincenzo Bellini)

Besuch am
17. Juni 2021
(Premiere am 15. Juni 2021)

 

Théâtre des Champs-Élysées

Trotz Maske und einer gewissen Distanz bedingten Spärlichkeit herrscht helle Begeisterung und große Erwartung beim Publikum, als es nach der langen Covid Durststrecke zum ersten Mal wieder das Théâtre des Champs Elysées für eine Opernaufführung betreten darf. Man hat für dieses Ereignis eine von Bellinis Meisterwerken ausgewählt: La Sonnambula.

La Sonnambula wird als die erste Oper jener kurzen Periode Bellinischer Meisterwerke Anfang 1831 in Mailand uraufgeführt. Der junge Komponist hat vielleicht nicht den Sinn für die theatrale Komik seines Zeitgenossen Rossini, vielleicht nicht das Talent für die atemberaubende Koloraturen seines Freundes Donizetti, aber er ist der Meister der lang ausgedehnten lyrischen Melodik, wie die Romantik sie liebt und wie der junge Verdi sie bewundert.  Diese Periode Bellinischer Meisterwerke erreicht noch im selben Jahr mit Norma, einer Oper, die dann Inbegriff der romantischen italienischen Oper schlechthin wird, ihren Höhepunkt.

Wie hätte die Opernliteratur des 19. Jahrhunderts ausgesehen, wenn das Genie aus Catania nicht schon wenige Jahre später mit nur 34 Jahren gestorben wäre?

Rolando Villazón, der einstmals gefeierte Tenor, nun Opernregisseur, gibt der einfachen Geschichte der Sonnambula, der jungen Braut Amina in einem abgelegenen Schweizer Alpendorf, die als Schlafwandlerin ganz unschuldig ins falsche Schlafzimmer gerät und darauf als Ehebrecherin von der Dorfgemeinschaft geächtet wird, eine zusätzliche Dramatik. Bei ihm werden die einfachen Dörfler zu fanatischen Puritanern, die in auf die Spitze getriebener Engstirnigkeit und Sittenstrenge alle Freude, alles Vergnügen verbieten. Dieser schwarz gekleideten Wand der Strenge steht die immer wieder durchbrechende, überschäumende Fröhlichkeit und Lebensfreude Amina in einem einfachen weißen Kleid gegenüber. Wie der Regisseur selbst sagt: „Innerhalb dieser abgeschlossenen Welt fällt nur Amina durch ihre Lebensfreude und durch ihre Neugierde aus dem Rahmen, die es ihr erschweren, sich völlig zu integrieren.“ Nur bei den immer wieder auf der Bühne sich vergnügenden und Unfug treibenden Kindern und bei dem von einer langen Auslandsreise zurückkehrenden Grafen findet sie Verständnis. Aber nicht einmal er, der Graf, darf sich eine Zigarette anzünden. Die Personenregie dieses Gegensatzes ist gut herausgearbeitet. Um die schlafwandlerische Besonderheit Aminas zu unterstreichen, gibt Villazón ihr drei nur mit durchsichtigen Schleiern bekleidete Sylphiden bei, die um sie herum oder auf dem Gletscher tanzend ihr Unwesen treiben. So weit, so gut! Doch im allerletzten Moment, als die strenge Dorfgemeinschaft schon bekehrt und von Aminas Unschuld überzeugt ist, zerstört Villazón aus was für immer unerklärlichen Gründen – es sei denn, auch hier hat mal wieder einer jener jetzt modischen Ideologen seine Spur hinterlassen – die innere Logik des Textes und der Musik. Inmitten des jubelnden Finales der Oper ändert er das vorgesehene Geschehen, indem er Amina mit einer Reisetasche aus der Dorfgemeinschaft ausweisen und auf den Weg schicken lässt, während ihr Bräutigam ihre Rivalin heiratet.

Das Bühnenbild Johannes Leiackers ist eine unwandelbare, manchmal vom Nebel verdeckte Hochgebirgskulisse und davor eine Eislandschaft, die einem Zuckerbäcker Ehre gemacht hätte. In die unmittelbar die Bühne begrenzende Eiswand sind eine Reihe von Türen eingelassen. Auf Aminas Tür malt der selbstgerechte Gemeindevorsteher nach ihrer „Schande“ ein großes schwarzes Kreuz.

Die südafrikanische Sopranistin Pretty Yende, die sich in Paris schon vor zwei Jahren als Violetta offenbart hat, durchläuft als Amina von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt alle Register ihrer reichen Stimme. Vom silbern-zarten Come per me sereno zu Beginn der Oper bis jubelnd-triumphierend, alle Melismen mühelos durchlaufend in der cabaletta des Finales. Schauspielerisch berührt sie durch ihre fast kindliche, unglaublich ausdrucksstarke Vitalität und Spontaneität sowohl in der Freude als auch im Leid. Francesco Demuro ist regiebedingt etwas steif und geschniegelt, aber singt den Elviro mit elegantem, schneidend klarem Tenor, wie in Prendi, l’anel ti dono, in der auch seine hohen Register gut zur Geltung kommen, oder feurig, wie in der cabaletta Domani, apene aggiorno. Alexander Tsymbalyuk ist mit warmer, voller Bassstimme der ausgleichende, vermittelnde Graf Rodolfo. Ob Verdi sich wohl der schönen lyrischen Arie Rodolfos Il mulino … il fonte … il bosco erinnert hat, als er die Arie des Giorgio Germont im zweiten Akt von La Traviata schrieb? Annunziatas Vestris hat eine kräftige Mezzosopran-Stimme, die in der Gespenster-Erzählung fast etwas Unheimliches annimmt. Sie spielt und singt überzeugend die Rolle der mutigen Ziehmutter Teresa, die als einzige ihren Schützling verteidigt. Sandra Hamaoui ist stimmlich wie schauspielerisch glaubhaft die frustrierte Lisa, die auch den Elviro heiraten möchte und ihrem Unglück in der pastoralen Eingangs-Kavantine Tutto è giosa, tutto è festa … sehr schön Ausdruck verleiht. Marc Scofoni ist mit selbstgerechter Standhaftigkeit der Gemeindevorsteher Alessio.

Das Orchestre de chambre de Paris, der Chœur de Radio France, die Mâitrise de Hauts-de-Seine und alle Solisten stehen unter der bewährten Leitung von Riccardo Frizza.

Es ist musikalisch eine sehr schöne Aufführung und bis auf das Finale auch eine recht annehmbare Regie. Das Publikum überschüttet die Ausführenden mit begeistertem Applaus. Nur Rolando Villazón muss Buh-Rufe hinnehmen. Das verschandelte Finale der Oper verzeiht ihm das Publikum nicht.

Alexander Jordis-Lohausen