O-Ton

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Foto © Bernd Uhlig

Aktuelle Aufführungen

Glücklose Leidenschaft

DIE SACHE MAKROPULOS
(Leoš Janáček)

Besuch am
5. Oktober 2023
(Premiere am 29. April 2007)

 

Opéra national de Paris, Bastille

Als unmittelbarer Nachfolger Dvoraks und Smetanas studiert Leoš Janáček seine berühmten Vorgänger genau, entwickelt dann aber seine eigene musikalische Sprache. Und die ist von einem sehr persönlichen Interesse für die Laute der Natur – Vogelgesang, Tierschreie, das Rauschen eines Wasserfalls – vor allem aber von der Idee der „Sprachmelodie“ geprägt. „Wenn mich jemand ansprach, habe ich seine Worte vielleicht nicht verstanden, aber den Tonfall. Ich wusste sofort, was in ihm steckt: ich wusste, wie er fühlt … Töne, der Tonfall der menschlichen Stimme, jedes Lebenswesens überhaupt, hatten für mich die tiefste Wahrheit. Das ist mein Lebensbedürfnis. Sprachmelodien sammle ich seit 1879 … das sind meine Fensterchen in der Seele“, schreibt er selbst darüber. Und wenn sein Orchester das der Post-Wagner-Generation ist, so sind seine Singstimmen von diesen „Sprachmelodien“ bestimmt. Es ergibt sich daraus eine Musik, in der Tempi und Atmosphären oft abrupt wechseln.

Janáček kommt erst spät zu Ruhm und Ehren. Auch vier seiner neun Opern komponiert er erst spät im Leben. Die Sache Makropulos ist die vorletzte und findet schon bei ihrer Uraufführung in Brünn im Jahre 1926 großen Anklang. Als Vorlage dient eine Komödie Karel Čapeks, die der Komponist selbst zu einem poetisch-metaphysisch-fantastischen Textbuch umschreibt.

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Die Handlung beginnt in einer Rechtsanwaltskanzlei. Man spricht über einen Erbschaftsprozess, in dem sich die Familien Prus und Gregor seit fast einem Jahrhundert gegenüberstehen. Nun erscheint die Operndiva Emilia Marty und erklärt, sie wisse, dass Albert Gregor der rechtmäßige Erbe sei. Denn der kinderlos verstorbene Urahne Prus habe ein Verhältnis mit der Sängerin Ellian MacGregor gehabt, von deren unehelichem Sohn das Geschlecht der Gregors abstamme. Aber die Prus hätten das von ihrem Urahnen zu Gunsten seines unehelichen Sohnes ausgestellte Testament versteckt. Mitten dahinein platzt der alte Graf Hauk-Sendorf, der in Emilia Marty seine ehemalige Geliebte Eugenia Montez wiederzuerkennen glaubt. Auch Albert Gregor sowie der junge Janek Prus machen Emilia Marty intensiv den Hof. Doch die weist sie alle zurück. Sie scheint allein daran interessiert, das Testament als auch ein verschwundenes griechisches Dokument in ihren Besitz zu bringen. Sie weiß, dass Janeks Vater, Jaroslav Prus, die strittigen Dokumente besitzt und ist bereit, sie gegen gegen eine Liebesnacht mit ihr einzuhandeln. Er ist einverstanden. Am nächsten Morgen erhält sie, worauf sie wartet. Bald darauf erfährt Jaroslav, dass sein Sohn Janek aus Liebeskummer Selbstmord begangen hat und ist empört über Emilias Gleichgültigkeit. Von allen bedrängt, gibt Emilia schließlich ihre Identität bekannt: Emilia Marty, alias Eugenia Montez, alias Ellian MacGregor, alias Elina Makropulos. Sie sei all diese Frauen, denn sie sei 337 Jahre alt. Dann erzählt sie ihren anfänglich ungläubigen Zuhörern, dass Kaiser Rudolf II. im 16. Jahrhundert seinem Leibarzt Hieronymos Makropulos, ihrem Vater, den Auftrag erteilt habe, ihm einen Trank zu mischen, der sein Leben um 300 Jahre verlängere. Der Arzt gibt den fertiggestellten Trank probeweise erst seiner Tochter Elina, die daraufhin tagelang bewusstlos bleibt. Dafür kommt der Arzt als Scharlatan ins Gefängnis. Die Tochter hingegen erwacht wieder zum Leben, flieht mit der Geheimformel des Unsterblichkeitstranks ins Ausland und lebt weiter durch die Jahrhunderte als gefeierte Diva, immer mit den Initialen E. M. Zwar habe sie nun das griechische Dokument mit der Geheimformel für den Unsterblichkeitstrank wieder in ihrem Besitz. Doch weil sie in ihrem langen Leben nur ein einziges Mal – mit dem Urahnen Prus – die wahre Liebe gefunden habe, sonst nie, wolle sie sich nicht noch einmal auf eine weitere Langlebigkeit einlassen. Sie überlässt das Dokument der jungen Sängerin Krista, die schon von einer Star-Karriere träumt. Doch die verbrennt die Formel auf Anraten aller anderen Anwesenden. Emilia fühlt, dass ihr langes Leben zu Ende geht, und sie stirbt nach einem langen Monolog am Schluss der Oper.

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Regisseur Krzysztof Warlikowski hätte aus einem solchen Stoff einen extravaganten Theater-Klamauk machen können. Doch er sieht in dem Drama der Langlebigkeit wohl eher die Unmenschlichkeit unserer Zeit und in der Diva ein monstre sacré, das kaum noch lebendig überall Leidenschaft entfacht, aber nur Unglück und Tod mit sich bringt.  Als Einführung in den Diva-Kult lässt der Regisseur während der Ouvertüre Videos aus dem Leben Marylin Monroes projizieren. Das berühmte Bild ihres vom Luftzug von unten hoch gewirbelten Kleids wird zum Diva-Leitmotiv der Inszenierung. Und die Hollywood-Bilder begleiten das Publikum durch die ganze Oper, mit Ausschnitten aus einem King-Kong-Film und schließlich mit der Schlussszene aus Billy Wilders Sunset Boulevard und dem irren Blick Gloria Swansons.  Małgorzata Szczęśniaks Bühnenbilder unterstreichen die Unmenschlichkeit durch radikale Nüchternheit und aseptische Kälte, die alle mögliche Poesie ausschließt. Zuerst ist es nur ein einfaches Büro, dann ein Kinosaal, in dem die Protagonisten dem Publikum gegenübersitzen. Und dann als Höhepunkt ihrer Visionen: Albert Gregors vergebliches Liebesflehen in den hellerleuchteten, blitzsauberen, gekachelten Toiletten. Emilia sitzt drinnen auf dem Klo, und er kniet draußen vor den Pinkelschalen und schmachtet. Wenig später schläft die erschöpfte Diva in der Badewanne eines weiß gekachelten Badezimmers ein, während vor ihr der junge, unbeholfene Janek nach Liebe lechzt. Unmenschlicher und unromantischer geht es kaum noch. Im letzten tragischen Akt führt eine blaugekachelte, schiefe Ebene hinunter zu einem Schwimmbad. Die Kostüme sind dunkle Anzüge für die Männer und etwas fantasievoller wechselnd farbige Kleider für Emilia und die junge Sängerin Krista. Die Personenregie ist sehr genau, besonders, was die Hauptdarstellerin betrifft. Sie lässt das Unbefriedigte, das Überdrüssige, aber auch das Neurotische in den Vordergrund treten.

Keine besonders erfreulichen Visionen, aber sie sollen wohl auch nicht erfreulich sein. „Die zurückgehenden Opern-Kartenverkäufe haben nichts mehr mit dem Covid zu tun. Es hat damit zu tun, dass das Publikum – ich übertreibe vielleicht etwas – die Nase voll hat von all den Inszenierungen, in denen immer alles auf den Kopf gestellt werden muss, wo immer provoziert werden muss. Wir leben in einer Welt, in der ich an Produktionen teilnehme, wo sich niemand mehr um das Vergnügen des Publikums schert. Und das, glaube ich, ist ein Irrtum“, hat Jonas Kaufmann kürzlich in einem Interview mit Radio France gesagt. Man müsste darüber nachdenken. Warum hat uns die bewundernswerte Inszenierung Patrice Chéreaus von Janáčeks Aus dem Totenhaus so viel mehr zugesagt, obwohl auch in ihr nicht alles angenehm war?

Auf der musikalischen Seite steht und fällt Die Sache Makropulos mit der Monster-Rolle der Emilia Marty alias Elina Makropulos. Und so ist Karita Mattila stimmlich wie auch schauspielerisch der erklärte Star des Abends. Besonders großartig in der großen, lyrischen Schlussszene der Oper Ich habe gefühlt wie der Tod die Hand auf mich gelegt hat. Und das war nicht so schrecklich. Pavel Černoch steht ihr mit wohl timbriertem Tenor als der reife, in Liebe zur großen, in ihrem Verhalten so unverständlichen Sängerin entbrannte Albert Gregor zur Seite.

Johan Reuter ist mit dunkler Bariton-Bass-Stimme der Vater Prus, der wohl eine Liebesnacht mit der Diva gewinnt, aber einen Sohn verliert. Den spielt und singt in all seiner schlaksigen Unerfahrenheit sehr glaubhaft Cyrill Dubois. Nicolas Jones absolviert mit hellem, viel versprechendem Tenor seinen ersten Auftritt als Mitglied des Ensembles der Pariser Oper als der Kanzleischreiber Vitek. Llanah Lobel-Torres singt mit viel jugendlichem Temperament dessen junge Tochter Krista, die voller Bewunderung für die große Diva ist. Der ernste Rechtanwalt Dr. Kolenaty ist mit tiefem Bariton würdig vertreten durch Károly Szemerédy. Last, but not least spielt und singt Peter Bronder mit sichtlichem Vergnügen und viel Humor den schon etwas vertrottelten Grafen Hauk-Sendorf, die einzige komische Rolle der Oper.

Simon Rattle soll einmal gesagt haben, Die Sache Makropulos sei zum Dirigieren vielleicht die schwierigste aller Opern-Partituren, die er kenne. Dirigentin Susanna Mälkki nimmt die Warnung sehr ernst. „Eine Szene hat eine gewisse Atmosphäre und plötzlich löst ein Wort einen Intensitätswechsel aus. Es ist meine Aufgabe darauf zu achten, wann der Wechsel der Tempi wichtig ist für den Fortgang des Dramas“, sagt sie. Sie dirigiert die Solisten sowie Chor und Orchester der Opéra national de Paris mit grosser Klarheit und unerschütterlicher Ruhe durch die schwierige Partitur.

Trotz einiger Buh-Rufe, als schließlich auch der Regisseur zum End-Applaus auf die Bühne kommt, scheint das Publikum recht zufrieden, vor allem mit der musikalischen Darbietung dieser dritten Wiederaufnahme einer Inszenierung von 2007.

Alexander Jordis-Lohausen