O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Vincent Pontet

Aktuelle Aufführungen

Erschreckend aktuell

PETER GRIMES
(Benjamin Britten)

Besuch am
26. Januar 2023
(Premiere)

 

Opéra National de Paris, Palais Garnier

Als im Juni 1945 Peter Grimes, Benjamin Brittens erste große Oper, zu einem sofortigen internationalen Erfolg wird, ist es nach 250 Jahren nicht nur das erste Mal, dass England wieder mit einer bedeutenden Oper an die Öffentlichkeit tritt, es bekommt mit Peter Grimes auch eine regelrechte Volksoper. Wie Karl Renner bemerkt: „Landschaft, das Milieu, die Menschen, ihre Art sich zu geben und ihre Probleme, die mit Seemannstänzen, Fischer-, Zecher-, Netzflickerliedern und sinfonischen Seestücken durchsetzte realistische Musik – alles an dieser Oper ist typisch englisch.“ Mag sein, dass Britten sich hier hin und wieder an altenglischer Volksmusik inspiriert hat, doch ist seine Musik im Allgemeinen zwar tonal, erfindungsreich und mitreißend, aber scharf dissonant mit einer Vorliebe für schrille Bläserschreie und erinnert bisweilen an Strawinsky. Zwischen den Akten und Szenen spielt das Orchester sechs Intermezzi, die teils dramatisch, teils lyrisch meist die Stimmung über dem Meer wiedergeben sollen.

Die Handlung der Oper folgt dem 1810 veröffentlichten Gedicht The Borough von George Crabbe. Benjamin Britten mag gefühlt haben, dass dieses Gedicht wie für ihn und seinen Lebensgefährten Peter Pears geschrieben sei. Nicht zu Unrecht, denn Britten ist nicht nur in einem Fischerdorf geboren und aufgewachsen, er ist später auch wegen seiner Homosexualität und während des zweiten Weltkriegs auch wegen seines Pazifismus von weiten Teilen der englischen Bevölkerung angefeindet worden. Und das Thema dieses Gedichts ist das Schicksal des Einzelnen, verallgemeinernd könnte man auch sagen das Schicksal einer Minderheit, gegenüber der Mehrheit in einer Gemeinde – The Borough. Im Falle Peter Grimes‘ sind es die immer hitziger werdenden Anschuldigungen der Bevölkerung eines armen Fischerdorfs an der englischen Küste, vom Kesseltreiben bis zur Hexenjagd, gegen einen Sonderling, Peter Grimes, dessen junger Gehilfe noch dazu beim Fischfang auf See auf ungeklärte Weise ertrunken ist. Beim anschließenden Prozess wird Grimes zwar freigesprochen, aber die hasserfüllte Gerüchteküche gegen den Außenseiter verstummt nicht. Als nun sein neuer Schiffsjunge ohne sein Verschulden zu Tode stürzt, setzt eine hysterische Menschenjagd ein, die den Fischer in den Tod treibt.

Deborah Warner, die Regisseurin der Oper, ist mit Brittens lyrischen Werken gut vertraut. Aber sie ist offensichtlich besonders fasziniert von dieser Oper. Sie hält die fürchterliche Verfolgung eines Außenseiters durch die Gemeinschaft für außerordentlich beunruhigend. Sie stellt sich die Frage, warum wir es uns antun, solche Tragödien überhaupt anzusehen, und gibt sich selbst die Antwort: Weil wir dabei zweifellos etwas über uns selbst, vor allem aber über andere lernen können. Die Regisseurin hat diese Erzählung des frühen 19. Jahrhunderts in unsere Zeit versetzt, wo sie auch hinpasst, ist doch das Thema auch heute noch von ungeheuerlicher Aktualität. Mit psychologisch feinfühliger Personenregie, einem einfachen der Handlung entsprechend etwas düsteren Bühnenbild von Michael Levine, dazu passenden Kostümen von Luis F. Carvalho, wirksamer Beleuchtung von Peter Mumford und einer sehr bühnenwirksamen Choreografie von Kim Brandstrup entsteht ein kohärentes, erschreckendes Gesamtbild.

Allan Clayton als Peter Grimes meistert auf hohem stimmlichem Niveau alle Feinheiten seiner schwierigen Rolle, die vom erregten Sprechgesang über träumerische Lyrik bis zur verzweifelten Dramatik reicht. Schauspielerisch bietet er uns die psychologisch gewaltige Darstellung eines an sich harmlosen, aber cholerischen, asozialen und misstrauischen Eigenbrötlers. Unheimlich am Ende des ersten Akts, seine leise, eintönige, Unheil schwangere Litanei Now the great Bear and Pleiades where earth moves are drawing up the clouds of human grief, die sich langsam in eine erregte Paranoia steigert. Ergreifend in der ersten Szene des zweiten Akts, wenn er allein und endlich wieder sich selbst ist, gefasst als ordentlicher und erfahrener Seemann In dreams I’ve built myself a kindlier home, wo auch das sonst so aufgewühlte Orchester vorübergehend etwas zur Ruhe kommt. Ihm gegenüber – die Lichtgestalt der Oper – Maria Bengtsson als die junge Witwe Ellen Orford, die letztlich vergeblich versucht, ihm zu helfen, ihn vor der Meute zu retten. Mit weicher, sanfter Stimme in den lyrischen Momenten, kraftvoll, aber ohne Schärfe in den dramatischen, beherrscht sie die hohen als auch die für einen Sopran oft reichlich tiefen Register meisterhaft. Sehr eindrucksvoll mit dumpfen Paukenschlägen im Orchester in ihrer ersten Auseinandersetzung mit den hysterischen Dorfbewohnern, Whatever you say, I’m not ashamed! Sehr meditativ, intensiv und voller dunkler Vorahnungen im dritten Akt mit My embroidered anchor on the chest. Simon Keenlyside sehr überzeugend als charakterstarker Captain Balstrode sowie Jacques Imbrailo als der Apotheker Ned Keene, die beide immer wieder versuchen, die Menge zu beschwichtigen. Als Wirtin im Pub The Boar fungiert sehr glaubhaft Catherine Wyn-Rogers, wirksam unterstützt von ihren zwei spritzigen Teenager-Nichten Anna-Sophie Neher und Ilanah Lobel Torres. Aus der neurotischen, Laudanum süchtigen Witwe Mrs. Sedley, die schnüffelnd und Hass schürend überall verkündet: Crime, that‘s my hobby, macht Deborah Warner fast eine Opera-buffa-Figur. Alle übrigen Sänger: John Graham-Hall, Clive Bayley, James Gilchrist und Stephen Richardson, wie auch der kleine Schiffsjunge ergänzen das ausgezeichnete Ensemble. Last, but not least sei noch der von Ching-Lien Wu einstudierte Chor der Dorfbewohner lobend zu erwähnen.

Alexander Soddy – bis 2022 Musikdirektor der Mannheimer Oper – geleitet mit freudiger Energie und Umsicht Solisten, Chor und Orchester durch die komplexe Partitur.

Es ist ein erschütterndes und eindrucksvolles, expressionistisches Gesamt-Kunstwerk, wofür das Premieren-Publikum mit selten starkem und einhelligem Applaus dankt.

Alexander Jordis-Lohausen