O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Vincent Pontet

Aktuelle Aufführungen

Moderne Sexkomödie

LE NOZZE DI FIGARO
(Wolfgang Amadeus Mozart)

Besuch am
21. Januar 2022
(Premiere)

 

Opéra National de Paris, Palais Garnier

Auf Grund seiner Vertonung von Pierre-Augustin Beaumarchais‘ prärevolutionären Figaro-Werkes, versuchen heutige Soziologen hin und wieder Mozart, neben Beethoven, unter die Revolutionäre einzureihen. Sicherlich war Mozart als Jugendlicher in seinen Ansichten durch die enge, streng hierarchische Atmosphäre am Hofe des „Großen Mufti“, wie er den Erzbischof von Salzburg manchmal nannte, geprägt worden. Es mag auch sein, dass ihm die berühmte Cavatine des Figaros zu Beginn der Oper Si vuol balare, Signore Contino eine gewisse Genugtuung verschaffte, gegenüber der unauslöschlichen Erinnerung des Fußtritts jenes wutentbrannten erzbischöflichen Hofkammerrats Graf Arco, der nicht akzeptieren konnte, dass Mozart die Dienste bei seinem Herrn aufkündigen wollte. Doch Mozart war zu sehr Musiker und sein Werk war ihm wichtiger als die Politik, als dass er riskiert hätte, dass die, wenn auch relativ tolerante kaiserliche Zensur Josefs II. die Aufführung seiner Oper verhindert hätte. Im Gegenteil, um dem vorzubeugen, bemühte er sich, mit Lorenzo da Ponte das Werk möglichst zu entschärfen.

Netia Jones, die für die Regie, die Dekors, die Kostüme und die Videos verantwortlich ist, sagt selbst, dass sie zuerst von Beaumarchais Theaterstück fasziniert gewesen sei und dann versucht habe, Beaumarchais mit Mozart zu vereinen und darauf das 18. Jahrhundert auf unsere Zeit abzustimmen. Letzteres hat sie zwar nicht geschafft, weil es unmöglich ist, aber es ist ihr gelungen, Mozarts, da Pontes and Beaumarchais‘ Werk in eine äußerst witzige zeitgenössische Gesellschaftskomödie zu verwandeln, in die die Musik relativ natürlich einfließt. Es wird vor allem durch dieses Operntheater, im wahrsten Sinne des Wortes, auch hier wieder das außerordentliche dramatische Genie Mozarts deutlich, das vor allem im zweiten Akt die Spannung des turbulenten Geschehens auf der Bühne so unvergleichlich verstärkt.

Durch eine sehr gekonnte Personenregie, bei der jede Bewegung, jede Geste, jeder Gesichtsausdruck zählt, hat Jones versucht, jede mögliche Situationskomik der Oper auszuschöpfen, ohne dass das Schauspiel dadurch unnatürlich, übertrieben oder burlesk wirkt. Sie liebt es auch, dem gesungenen Text die wahren Absichten durch andere Medien gegenüberzustellen. Das ist besonders witzig im Duett von Susanna und Marcellina – Via resti servita, Madama brillante – in dem die beiden einander mit geheuchelter Höflichkeit beschimpfen, während ihre Video-Schatten auf der Leinwand sich mit Blumensträußen verprügeln. Weniger überzeugend ist es, wenn der Chor Giovani liete, fiori spargete singt, um dem Feudalherrn zu huldigen, auf Plakaten jedoch, wie bei einer modernen Demonstration, seine sexuellen Übergriffe anprangert. Man muss das wohl als den Tribut der Regisseurin an Me-too werten.

Mag sein, dass man sich als Zuschauer, und vielleicht besonders als junger Zuschauer leichter mit Personen auf der Bühne identifizieren kann, die uns aus dem täglichen Leben vertraut vorkommen. Das ist sicherlich ein Mittel, die junge Generation für die Oper zu interessieren und damit ihr Fortleben zu sichern.

Aber was geht dabei verloren? Im vorliegenden Fall die Atmosphäre eines Werks, das musikalisch und literarisch im 18. Jahrhundert entstanden ist. Die Welt eines Mozarts und eines Beaumarchais mag dekadent gewesen sein, aber sie war geistreich, voller Witz und Poesie, voller Grazie und Empfindsamkeit. All das geht bei dieser Aufführung verloren. Aus einer anmutigen Liebeskomödie ist eine moderne Sexkomödie geworden, in der sich fast alle irgendeinmal bis auf Hemd und Höschen ausziehen oder ausgezogen werden. Aus dem Park der Verwandlungen wird ein numerisches Schwarz-Weiß-Labyrinth. Trockene Zahlen und Buchstaben dekorieren die Wände. Die Zeit tickt unaufhörlich.

Die Kostüme sind ganz zeitgenössisch. Doch für den großen Ball hat man stilisierte Kostüme des Rokoko ausgewählt, meist in grellen Rot-Tönen und mit nicht sehr eleganter Musterung. Die Dreiteilung der Bühne in drei Zimmer als Dekor der ersten beiden Akte ist gut gelungen, die Dekors der folgenden zwei Akte weniger.

Ein höchst erfreulicher Teil der Inszenierung, diesmal voller bezaubernder Grazie, sind die Balletteinlagen im dritten und vierten Akt, in denen man in der sehr zierlichen Choreografie von Sophie Laplane – diesmal greift man ins 19. Jahrhundert zurück – die ganz jungen Ballettratten der Pariser Oper in weißen Tutu-Röckchen zu einem Spitzentanz auftreten lässt. Man glaubt, ein wenig Degas lebendig auf der Bühne zu sehen. Unter diesen Ballettratten verstecken sich dann in gleicher Bekleidung auch Cherubino und Barbarina.

Man kann nicht leugnen, dass es im Vergleich zu vielen anderen Versuchen eine recht gute ins Moderne gezogene Inszenierung einer klassischen Oper ist. Voraussetzung für einen solchen Erfolg sind Regisseure mit viel Theater-Talent, mit einer guten musikalischen und literarischen Allgemeinbildung und mit vielen, vielen witzigen Ideen. Aber manches Mal genügt all das eben dann doch nicht. Etwas geht dabei verloren, ob man es will oder nicht. Und was entsteht, ist dann ein anderes Werk in einer anderen Zeit.

Peter Mattei singt und spielt souverän den stetig Schürzen jagenden, aber gleichzeitig über seine Gemahlin höchst eifersüchtig wachenden Grafen Almaviva, sehr glaubhaft in der polternd wütenden Arie Hai già vinta la causa! Cosa sento! Die Rolle der Gräfin füllt mit gleichmütiger, etwas wehmütiger Würde Maria Bengtsson aus. Mit reiner, weicher Sopranstimme und wunderschöner Stimmführung singt sie sich in Susanna non vien! Sono ansiosa ihren Kummer von der Seele. Die lebendige, stets wachsame Kammerzofe Susanna, die immer einen Ausweg findet, spielt und singt mit beweglicher und etwas scharfer Stimme Anna El Khashem. Nur im mezza-voce ihrer letzten großen Arie Giunse alfin il momento gibt sie sich ganz der weichen Lyrik hin. Luca Pisoni, der als Figaro von allen zu Hilfe Gerufene, entlädt sich hin und wieder kraftvoll, nicht nur tobend wie in der berühmten Cavatine gegenüber dem Grafen, sondern auch sehr heiter gegenüber dem immer lästigen Cherubino in Non più andrai. Lea Desandres Cherubino ist der Clou des Abends. Wirklichkeitsnäher hätte man sich einen liebenswerten, etwas linkischen, Handy hantierenden, indolenten, überall störenden, aber nicht abzuwimmelnden Teenager in Basketballschuhen, rotem Trainingsanzug mit umgekehrt aufgesetzter, roter Baseballmütze gar nicht vorstellen können. Und so singt er auch – lässig und mit Leichtigkeit, als wäre alles nur ein Spiel. Und das ist es für ihn auch, ein köstliches Spiel. Dorothea Röschmann und James Creswell werden als das Intriganten-Paar Marcellina und Bartolo stimmlich wie auch schauspielerisch ihrer buffa-Rollen vollauf gerecht. Jung und übermütig und verliebt ist Kseniia Proshinas Barbarina.

Michel Colvin als Don Basilio blickt in einer langen Arie in letzten Akt, In quegl‘anni, in cui val poco, etwas elegisch auf sein Leben zurück. Marc Labonnette als Gärtner und Andra Cueva Molnar sowie Ilanah Lobel-Torres als die zwei Donne fügen sich gut ins Ensemble ein.

Nicht vergessen sei das Orchester und der Chor der Opéra national de Paris, alle unter der bewährten Leitung von Gustavo Dudamel. Der neue Musik-Direktor der Pariser Oper hat darauf bestanden, Mozart bald auf den Spielplan zu setzen. Und vor allem den Figaro, den er seit seiner Kindheit kennt. Auch war es ihm wichtig, die Musik Mozarts und die Interpretation der Sänger so einfach und natürlich wie möglich zu halten.

Das Publikum, von jedweden Vorbehalten offensichtlich nicht angefochten, ist begeistert und will mit seinem Applaus die Akteure möglichst lange festhalten.

Alexander Jordis-Lohausen