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MÉDÉE
(Marc-Antoine Charpentier)
Besuch am
15. April 2024
(Premiere am 10. April 2024)
Einen Monat nach der Aufführung von Charpentiers geistlicher Oper David et Jonathas im Théâtre des Champs-Élysées bringt nun die Pariser Oper im Palais Garnier zum ersten Mal seit 331 Jahren Charpentiers einzige lyrische Tragödie Médée wieder auf die Bühne.
Erst sechs Jahre nach dem Tode Jean-Baptiste Lullys wagt sich der Komponist an eine Gattung heran, die bislang nur dem Hofkomponisten vorbehalten gewesen war. Jetzt dürfen auch andere für die Academie Royale de Musique komponieren. Der Librettist des Werkes ist Thomas Corneille, ein offensichtlich literarisch auch begabter, jüngerer Bruder des großen Dramatikers. Corneilles Vers-Epos beruht weitgehend auf Euripides‘ und Senecas Dramen. Médée, Jason und ihre beiden Kinder sind auf der Flucht und finden bei König Créon von Korinth Aufnahme. Doch Médée fürchtet Jason, für den sie alles geopfert hat, zu verlieren, umso mehr als dieser Créons Tochter Créuse den Hof macht. Doch Créon hat seine Tochter dem Prinzen von Argos, Oronte, versprochen als Preis für dessen militärische Hilfe im Krieg gegen Thessalien. Insgeheim aber fördert Créon die Verbindung seiner Tochter mit Jason. Erst als der König Médée vom Hof entfernen will und auch Jason sie endgültig zurückweist, verwandelt sich die bisher duldsam leidende Médée in eine von Rache und Mordgedanken besessene Zauberin. Sie beschwört die Geister der Unterwelt herauf, belegt den König mit Wahnsinn, der dadurch erst Oronte und dann sich selbst umbringt. Der naiven Créuse schenkt sie ein vergiftetes Kleid und lässt sie darin elend zugrunde gehen. Dem wütenden Jason bringt sie als letzten Triumpf ihre beiden Kinder, die sie, um ihn endgültig zu treffen, selbst ermordet hat.
Charpentier vertont die Handlung mit weit über die üblichen Maße hinausgehender klanglicher und dramatischer Vielfalt und mit einer Wucht, die schon den Weg weist für die Opern des damals gerade erst zehnjährigen Jean-Philippe Rameau. Der König erscheint zur Premiere und ist sogar einigermaßen beeindruckt von der Oper, die entgegen aller Tradition bis zum blutigen Ende an der Tragödie festhält und in der es kein glückliches Ende gibt. Doch die gewagten musikalischen Neuerungen in diesem, wie William Christie es nennt „absoluten Meisterwerk unter den nicht-geistlichen Werken Charpentiers“, finden bei dem an Lullys Musik gewöhnten Publikum wenig Beifall. Lange hält sich die Oper daher nicht auf der Bühne und verschwindet – wie ihr Komponist – für Jahrhunderte in der Versenkung.
Regisseur David McVicar hat die Handlung der 2013 für London geschaffenen Inszenierung in das alliierte Militär-Milieu in England der 1940-er Jahre verlegt. Bunny Christies Dekor ist ein klassizistischer Saal, der mit verschiedener Beleuchtung und Möblierung jeweils als Beratungsraum, Arbeitszimmer, Festsaal oder Nachtclub dient. Ihre Kostüme sind sorgfältig und ästhetisch ausgearbeitet: für die Männer fast ausschließlich Uniformen – englische Marine, französische Armee und amerikanische Luftwaffe – für die Frauen schicke Arbeitskostüme oder elegante lange Abendkleider, darunter das verhängnisvolle Glitzerkleid. Um die tragische Atmosphäre aufzuhellen, benutzt McVicar das in der französischen Oper unumgängliche Ballett am Schluss eines jeden der fünf Akte, um entweder Offiziere in musical-slapstick-Tänzen oder Matrosen mit halbnackten Dirnen oder dann wieder die Ungeister des Styx wie irre Zombies gekonnt und in Lynne Pages ausgezeichneter Choreografie über die Bühne wirbeln zu lassen. Es entsteht so in den ersten zwei Akten eine fast ausgelassene Stimmung.
Wie alle Opern jener Zeit besteht auch Médée zum großen Teil aus Rezitativen, die nicht lyrischer Gesang im herkömmlichen Sinne sind, weil sie der Vers-Deklamation des klassischen Theaters eines Corneille oder Racine noch sehr nahestehen. Sie verlangen daher von den Sängern besondere Fähigkeiten, um nicht langweilig zu werden. Musikalisch ist daher die Aufführung insofern besonders bemerkenswert, als sie unter der Leitung des nun fast 80-jährigen William Christie steht, der mit seinem Ensemble Les Arts Florissants seit 45 Jahren einen ganz wesentlichen Beitrag zur Renaissance der barocken Vokalmusik und speziell der französischen Barockmusik geleistet hat, der in seinem Jardin des Voix Generationen von Sängern ausgebildet hat, und in seinem Ensemble unzählige Instrumentalmusiker, von denen viele inzwischen ihre eigenen Kammerorchester gegründet haben und international bekannt geworden sind.
Denn nicht jeder Sänger hat für die Barockmusik die nötige Ausbildung. Wie Christie selbst sagt: „Man muss die Sprache können, eine gewisse Sympathie für das Wort empfinden, die Deklamationskunst respektieren. Jeder kann Noten singen, aber nicht jeder kann Worte singen. Dazu braucht man ein ästhetisches Verständnis, das jenen Stimmen oft fehlt, die ihre technische Arbeit mit Verdis Nabucco beginnen, wie es in den Konservatorien allzu oft der Fall ist … Sehr wenige Verdi- oder Wagner-Sänger haben die technischen und psychischen Fähigkeiten, sich an die Barockmusik heranzuwagen, schon gar an die französische … Dasselbe trifft auf die Orchester zu: Sie können alle Carmen spielen, aber nicht alle Rameau.“ So kann man diese Aufführung als eine Art Musterbeispiel betrachten, auf ganz hohem künstlerischem Niveau, wie eine Barockoper im Allgemeinen, und eine französische im Besonderen stilgerecht interpretiert werden soll, zumal drei der Interpreten, einschließlich die der Titelrolle, Absolventen von Christies Gesangsakademie Le Jardin des Voix sind.
Der unbestrittene Star des Abends ist Lea Desandre als Médée. Mit nuancierter Feinfühligkeit wird sie der Anforderung ihrer schwierigen und anstrengenden Rolle gerecht. Ihre Stimme ist klangreich, beweglich und gut auf ihre schauspielerische Darbietung abgestimmt. Ihre Diktion und Deklamationen der Rezitative sind vorbildlich. Doch besonders beeindruckend und unheimlich im dritten Akt nach dem noch duldsam-leidenden Lamento Quel prix de mon amour ist dann das im Orchester dramatisch begleitete, plötzliche furienhafte Erwachen der Zauberin am Rande des Wahnsinns und das Beschwören ihrer dunklen Verbündeten, die wie Ausgeburten der Hölle aus dem Hades emporsteigen Noires filles du Styx, divinités terribles, Quittez vos affreuses prisons. Ihr gegenüber interpretiert Reinoud Van Mechelen als englischer Marineoffizier etwas steif, aber mit kraftvoller Tenorstimme den Jason. Voll verliebter Begeisterung, als er Créuse zum ersten Mal in dem unseligen Glitzerkleid sieht: Ah! Que d‘attraits, que de grâces nouvelles. Den König Créon, der hier die Gestalt des General De Gaulle annimmt, stellt mit besonders schön timbriertem, tiefem Bariton erst würdevoll und majestätisch und am Schluss geistig umnachtet und lächerlich Laurent Naouri dar. Ganz staatsmännisch-verschlagen versucht er in Il est temps de parler Médée zu betrügen. Ana Vieira Leite erfreut als Prinzessin Créuse mit reiner, jugendlicher Stimme und schauspielerisch überzeugend als die platinblonde Schönheit, unschuldig-naiv bis es zum grausamen Erwachen: Quel feu dans mes veines s’allume! Als jovialer, polternder amerikanischer Flieger-Held präsentiert sich Gordon Bintners Oronte. Emmanuelle De Negri ist stimmlich wie auch schauspielerisch die diskrete Vertraute Médées, wie Élodie Fonnard als Cléone und Lisandro Abadie als Arcas die Vertrauten Créuses und Jasons sind. Alle übrigen Darsteller tragen jeder auf seine Weise erfolgreich zum Gelingen der Aufführung bei.
Der Chor und das Orchester Les Arts Florissants sind hier ganz in ihrem ureigensten Element, und Christie dirigiert Soli, Chor und Orchester mit der Meisterschaft, die man von ihm gewohnt ist.
Mit donnerndem, anhaltendem Applaus dankt das Publikum dafür. Man muss auch dem Intendanten Alexander Neef gratulieren, das seltene Juwel des französischen Barocks wieder aus der Versenkung geholt zu haben.
Alexander Jordis-Lohausen