O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Julien Benhamou

Aktuelle Aufführungen

Manon im Art-Deco-Stil

MANON
(Jules Massenet)

Besuch am
17. März 2020
(Fernsehübertragung, Premiere am 29. Februar 2020)

 

Opéra National de Paris an der Bastille

Jules Massenet hat im Lauf seines Lebens an die 40 Opern geschrieben. Die meisten davon sind in der Versenkung verschwunden. Aber wie Arnold Feil andeutet: „Mit seinen Opern Hérodiade 1881, Manon 1884, Werther 1892 und Thais 1894 prägt Massenet den Typus der Opéra lyrique und macht ihn zum Gegentyp der herrschenden Grand Opéra Meyerbeers und Gounods – und setzt damit zugleich Wagners Musikdramen ein eigenständig Französisches entgegen.“

Das Textbuch dieser Oper, dem der Skandal umwitterte Sitten-Roman Manon Lescault von 1731 zu Grunde liegt, erzählt die Geschichte eines jungen Mädchens, das statt ins Kloster einzutreten, wofür sie bestimmt war, sich Hals über Kopf ins zügellose Leben der Régence stürzt, aber dem turbulenten Strudel dieser prekären Existenz nicht gewachsen ist und dabei nicht nur ihre Unschuld und ihre große Liebe, sondern auch ihr Leben verliert.

POINTS OF HONOR

Musik



Gesang



Regie



Bühne



Publikum



Chat-Faktor



Es gelingt Massenet in diesem Werk sowohl die Leichtfertigkeit und die Sinnenfreudigkeit des frivolen und unbeschwerten jungen Mädchens als auch ihre Melancholie und tragische Leidenschaft musikalisch zu erfassen. Und schon die Uraufführung des Werkes zu einer Zeit, in der die geheuchelte Sittenhaftigkeit der Belle Époque der Zügellosigkeit der Régence in nichts nachsteht, wird zu einem ungeheuren Publikumserfolg. Es folgen allein im ersten Jahr siebzig Wiederholungen und Manon bleibt bis heute eine der meist gespielten französischen Opern.

Claude Debussy, auf den Massenet einen nicht zu unterschätzenden Einfluss ausübt, sagt von ihm: „Er hatte das Genie heller Klangfarben und geflüsterter Melodien in Werken, die aus Leichtigkeit gemacht sind.“ Auch die italienische Schule der Veristen steht unter Massenets Einfluss. Giacomo Puccini komponiert acht Jahre nach Massenets Oper seinerseits eine Manon Lescaut.

Vincent Huguet und sein Team haben diese Oper stilecht in die Zeit der rauschenden 1920-er Jahre verlegt. Im ersten Akt ist es eine kühle Art-Deco-Bahnhofshalle mit viel Glas und entsprechenden Schattenbildern.  Im dritten Akt, besonders ansprechend, der Ballsaal mit einer Design-Wendeltreppe, die nirgendwo hinführt. Dazu farblich sehr schön abgestimmte Abendkleider.

Die Choreografie ist gut. Auch die Balletteinlagen zwischen den Akten sind auf die 20-er Jahre abgestimmt. Das erste Ballett vergnügt sich sogar zu einem Schlager von Josephine Baker. Fernsehkameras haben den Vorteil – und das ist vielleicht der einzige Vorteil einer Fernsehübertragung – dass man die Personenregie aus der Nähe verfolgen kann: Die Mimik der Sänger und Sängerinnen ist sehr gelungen.

Foto © Julien Benhamou

Der langsame Übergang von der heiteren, leichten Operettenatmosphäre im ersten Akt zum zunehmend tragischen Geschehen bis hin zum tragischen Ende kommt in der Inszenierung gut zum Ausdruck.

Das gegenwärtige „Traumpaar“ der Pariser Oper ist wieder auf der Bühne. Nach ihrem Erfolg als Alfredo und Violetta in La Traviata im September im Palais Garnier, sind Benjamin Bernheim und Pretty Yende zurück, diesmal als Chevalier des Grieux und Manon in der Oper an der Bastille.

Benjamin Bernheim singt – wie Reinhard Brembeck es kürzlich so schön zusammenfasste – „subtil, mühelos, klangfarbenberauscht, intellektuell raffiniert.“ Man muss noch dazu sagen: Er ist ein Kind der französischen Gesangstradition, ein typischer ténor à la française, ein heller, weicher, sehr beweglicher Tenor, der mühelos die Resonanzen der Bruststimme mit denen der Kopfstimme mischt. Vor allem aber ein Sänger, der in jeder Rolle nach der ihm vorschwebenden Vollendung strebt. In dieser Aufführung fällt nicht nur die gesangliche Vollendung, sondern auch die genauestens einstudierte perfekte Diktion der französischen Sprache auf. Besonders eindrucksvoll die Mischung von Brust- und Kopfstimme in der kurzen lyrisch-romantischen Arie En fermant les yeux am Ende des zweiten Akts sowie auch in der großen tragischen Arie Ah, fuyez, douce image im dritten Akt.

Bei Pretty Yende fängt das Singen als Kind an mit den Zulu-Liedern ihrer Großmutter, und einige Jahre später die Begeisterung, als sie zufällig die Glockenarie aus Lakmé hört und erfährt, dass es so etwas gibt, das man „Oper“ nennt. Es folgen Jahre des zielstrebigen, aber vorsichtigen Hinauftastens auf der Karriereleiter bis zur Ausbildung an der Scala und der Konsekration beim Operalia-Wettbewerb. Jetzt ist sie internationaler Opernstar, aber immer noch sehr vorsichtig, keine Rollen anzunehmen, die noch nicht ihrer Stimme entsprechen. Sie hat keine große, gewaltige Stimme, aber ihr Sopran ist von glockenklarer Reinheit, mit einem verhaltenen Vibrato, einem jugendlichen Timbre und vor allem einer umwerfenden stimmlichen Beweglichkeit. Sie weiß, was sie ihrer Stimme zutrauen kann und geht nicht darüber hinaus. In Manon stellt sie sich gleich im ersten Akt fröhlich-jugendlich-frivol vor:  Mon Cousin, je suis encore tout étourdie, und dann wieder ganz lyrisch-melancholisch in Adieu, notre petite table im zweiten Akt. Im dritten Akt zeigt sie dann alle Register ihrer stimmlichen Möglichkeiten in ihrer großen Arie mit Chor Je marche sur tous les chemins, die triumphal und heiter sein soll, aber durch ihre Vorahnungen schon fast tragisch wirkt. Bemerkenswert ist ihre Diktion.

Ludovic Tézier stellt sein bestes stimmliches und schauspielerisches Talent zur Schau in der Rolle des zynischen Cousin Lescaux. Sehr witzig in A quoi bon l‘économie in der Ballszene des dritten Akts. Rodolphe Briand hat keine Schwierigkeiten, das Publikum in der lächerlichen Rolle des von allen verspotteten selbstgefälligen Schürzenjägers Guillot de Morfontaine zum Lächeln zu bringen. Doch wird er am Ende bittere Rache nehmen. Roberto Tagliavini als Conte de Grieux versucht, in einer schönen eindringlichen Arie vergeblich seinen Sohn von der fatalen Liebe zu Manon abzubringen: Epouse quelque brave fille! Pierre Doyen ist der nicht sehr erfolgreiche Liebhaber Brétigny. Zu erwähnen seien noch Jeanne Irelande, Cassandre Berthon und Alix Le Saux als das übersättigte Gesellschafts-Trio Rosette, Poussette und Javotte. Der wie immer von José Luis Basso bestens einstudierte Chor ist all gegenwärtig.

Dan Ettinger dirigiert die Solisten, den Chor und das Orchester der Opéra National de Paris mit Schwung und der nötigen Leichtigkeit.

Alexander Jordis-Lohausen