O-Ton

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Foto © Emilie Brouchon

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Auf dem psychologischen Seziertisch

LUCIA DI LAMMERMOOR
(Gaetano Donizetti)

Besuch am
18. Februar 2023
(Premiere 1995)

 

Opéra national de Paris, Bastille

Von Donizettis über 70 ernsten und heiteren Opern haben sich besonders zwei der heiteren, l’Elisir d’amore, mit dessen Uraufführung in Mailand 1832 er mit einem Schlage berühmt wurde, und Don Pasquale aus dem Jahre 1843 bis heute auf dem Spielplan gehalten. Von den tragischen ist es vor allem Lucia di Lammermoor.

Diese Oper, 1835 in Neapel uraufgeführt, mit ihren hals-brecherischen Primadonna-Koloraturen, sollte sicherlich den großen Sängerinnen jener Zeit wie Maria Malibran die Gelegenheit geben, ihr außergewöhnliches Belcanto-Können zu demonstrieren. Aber Lucia ist deswegen nicht nur ein Lehrstück für Bravourarien. Und wenn bei Donizetti die Stimme immer im Vordergrund steht, ist die Oper dennoch zu einem Muster-Beispiel des dramma tragico geworden und gilt heute als Inbegriff der romantischen italienischen Oper schlichthin.

Die Handlung beruht auf einem von Walter Scott beschriebenen fait divers aus dem 17. Jahrhundert, eine schottische melodramatische Variante des Romeo und Julia Dramas. Mit sehr viel Subtilität untermalt Donizettis Musik hier die Empfindungen und die Leidenschaften der Hauptdarsteller.

Vor ein paar Jahren hat man einmal einen berühmten Dirigenten gefragt, ob er eigentlich gerne konzertante Opernaufführungen dirigiere, und er antwortete: „Immer mehr, denn dann brauche ich nicht hinaufschauen, was da alles auf der Bühne vorgeht!“ Was bei dieser Aufführung auf der Bühne vorgeht, ist nicht gerade abscheulich. Man hat schon viel Schlimmeres erlebt. Aber der unvoreingenommene Zuschauer fragt sich doch, warum man nun gerade Andrei Serbans Inszenierung von 1995 wieder aufgewärmt hat. Serban hat sich für die Inszenierung dieses romantischen, schottischen Melodramas von Professor Charcot und seinen in den 1880-er Jahren öffentlichen psychopathogische Experimenten an hysterischen Frauen im Pariser Salpetrière-Spital inspirieren lassen. Sigmund Freud war dort eine Zeit lang sein Schüler. Serban hat aber die Handlung selbst in die männliche Welt der danebenliegenden Kadetten-Kaserne des Kavallerie-Korps Cadre Noir verlegt.

Für Serban sind es die Zuschauer, in diesem Falle der Chor oben auf der Rundgalerie, der zuschaut, wie Lucia und andere hilflose Frauen unten in der Arena vergeblich versuchen, sich gegen unerbittliche Männer zu wehren. „Und die Oper muss durch das Prisma dieses Zuschauens gesehen werden“, erklärt Serban. Auch fragt er sich: „Braucht denn solch eine romantische Oper ein ‚schönes‘ Dekor? Oder braucht man einen Zusammenstoß, um nicht zu sagen einen Gegensatz zwischen der romantischen Musik und der Kälte des Dekors, damit das Bild überraschend und neu wirkt“. Das bedeutet so viel wie: Lucia di Lammermoor ist keine romantische Donizetti-Oper mehr, sondern ein neues, rein intellektuelles Theater-Experiment mit Donizetti-Musik. Vielleicht muss man Serban zugutehalten, dass seiner Inszenierung zumindest ein durchdachtes, vielleicht auch von Me too inspiriertes Konzept zu Grunde liegt.

Die „Zuschauer“ mit schwarzen Anzügen, schwarzen Zylindern, am Ende sogar mit schwarzen Regenschirmen, die wie dunkle Racheengel oben auf der Rundgalerie stehen, hätten allein noch einen eindrucksvollen, fast romantischen Hintergrund abgegeben. Aber die Kletterseile und Turnbarren, die klobigen Laufstege, die Zielscheiben und die eisernen Kasernenbetten, auf denen sich unten die Mannschaften in sträflingsähnlicher Kleidung tummeln, sind weder romantisch noch formschön.

Kurz, wenn man Donizetti und den Belcanto liebt, tut man bei dieser Aufführung gut daran, hin und wieder die Augen zu schließen, um nichts mehr zu sehen und nur zu hören. Und das lohnt sich.

Mit glockenreiner Stimme ist Brenda Rae die unglückliche Lucia. Ihre Wahnsinnszene Il dolce suono mi colpi di sua voce ist sowohl schauspielerisch als auch stimmlich ein sehr schönes Erlebnis. Umso mehr, als es ihr gelingt, die Koloraturen ganz natürlich in ihre klare Stimmführung einzufügen und sie derart ihrer Gestik anzupassen, dass sie weniger wie Primadonna-Koloraturen, sondern eher wie der Ausdruck von Lucias Geisteszustand wirken. Ihr gegenüber als der ebenso unglückliche Edgardo di Ravenswood entfaltet sich Javier Camarenas Stimme nur unvollständig in den dramatischen Szenen des ersten Akts, vielleicht ist er indisponiert. So kommt seine helle, metallische Tenorstimme eigentlich erst in der lyrischen Arie mit Chor Tombe degli avi miei im Finale des dritten Akts voll zur Geltung. Matia Olivieri stellt sich gleich zu Beginn der Oper in der Kavatine Crudam funesta smania mit klangvollem Bariton als der unerbittliche, egoistische Enrico Ashton vor. Ihm zur Seite die willigen Helfer Thomas Bettinger als Arturo Bucklaw und Eric Huchet als Normanno.  Adam Palka als Kaplan Raimondo Bidebent berichtet erschüttert, mit warmer, voller Bassstimme, dass Lucia ihren ungeliebten Gemahl umgebracht habe und in geistige Umnachtung gefallen sei, in Dalle stanze ove Lucia. Julie Pasturaud ist die wohlmeinende, aber auch hilflose Amme Alisa. Eindrucksvoll sind die Ensemble-Szenen. Unter ihnen vor allem das Sextett mit Chor Chi me frena in tal momento am Ende des zweiten Akts. Es ist neben dem Quartett aus Rigoletto wohl die berühmteste Ensembleszene der italienischen Opernliteratur. Nicht zu vergessen sei der von Ching-Lien Wu gut einstudierte Chor.

Aziz Shokhakimov dirigiert Solisten, Orchester und Chor der Opéra national de Paris. Manchmal wünschte man sich etwas schnellere Tempi.

Das Publikum ist sehr begeistert.

Alexander Jordis-Lohausen