O-Ton

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Iphigenie im Altenheim

IPHIGÉNIE EN TAURIDE
(Christoph Willibald Gluck)

Besuch am
14. September 2021
(Premiere)

 

Opéra National de Paris, Palais Garnier

In der Zeit des späten Barocks zuerst bei Sammartini in Mailand und später bei Händel in London ausgebildet, wird Christoph Willibald Gluck erst im Laufe seiner weiteren Laufbahn in Wien und danach in Paris zum großen Reformer und Überwinder der an einem Übermaß an Virtuosität erstickenden Opera seria. Wie Carlo Goldoni zur selben Zeit in Venedig versucht, wieder menschliche Gestalten auf die italienische Theaterbühne zu stellen, hat sich Gluck vorgenommen, auch auf der Opernbühne wieder dem wirklichen Leben nachvollzogene Menschen mit all ihren Freuden und Sorgen, mit all ihren Ängsten und Leidenschaften darzustellen.

Königin Marie-Antoinette, deren Musiklehrer er in Wien gewesen war, lädt Gluck 1774 nach Paris ein. Iphigénie en Tauride ist seine letzte große Reformoper. Sie wird 1779 in der Académie Royale de Musique in Paris uraufgeführt. Die Oper wird ein großer und nachhaltiger Erfolg. „An dem Tag, an dem es mir nach einer angsterfüllten Wartezeit gegeben war, Iphigénie en Tauride zu hören, habe ich, als ich aus der Oper kam, mir geschworen, Vater, Mutter, Onkeln, Tanten, Großeltern und Freunden zum Trotz, Musiker zu werden!“, schreibt fast ein Jahrhundert später Hector Berlioz in seinen Memoiren. Auch Richard Wagner und Richard Strauss sind bei dieser Iphigenie in die Schule gegangen.

Gluck geht in dieser Oper noch weiter in der Charakterisierung seiner Operngestalten. Als man ihm vorwirft, dass die Orchesterbegleitung der Orest-Arie Le calme rentre dans mon coeur im Gegenteil höchst unruhig sei, antwortet er: „Orest lügt. Die Instrumente aber lügen nicht. Orest tötete seine Mutter!“ Damit wird Gluck wohl schon ein Jahrhundert vor Siegmund Freud zum Interpreten des Unterbewussten.

Drei der vier Hauptpersonen leiden unter Zwangsvorstellungen oder post-traumatischen Zuständen, die sie nicht überwinden können: Iphigenie an den Qualen ihrer Opferung in Aulis, in der sie fast den Tod gefunden hätte, Orest an seiner Ermordung der eigenen Mutter, die wiederum seinen Vater umgebracht hatte, dem Skytenkönig Thoas von Tauris wiederum hat man den gewaltsamen Tod geweissagt, was ihm zur Paranoia geworden ist.

Es ist in diesem Zusammenhang nicht erstaunlich, dass der tiefgründige altgriechische Mythos – und was Gluck daraus gemacht hat – ein willkommener Nährboden für den von psychologischen Thriller-Filmen und besonders von David Lynch beeinflussten Regisseur Krzysztof Warlikowski ist. Seine Regie entsteht 2006 zur Zeit Gérard Mortiers und sorgt schon damals für ziemlichen Wirbel. Man kann den Versuch verstehen, die starken antiken psychologischen Situationen uns durch heute verständlichere Bilder darzustellen und zu verstärken. Warlikowski und sein Team verlegen die Handlung in ein Altenpflegeheim, in der die Patienten Zeit haben, über ihr Leben nachzudenken. Hier ist alles sehr nüchtern, sehr klinisch, sehr kühl, sehr prosaisch. Der ganze Bühnenraum ist Schlafraum plus Aufenthaltsraum plus Waschraum. Hier gehen die alten Damen unablässig im Schlafrock oder aufgetakelt in Sonntagskleidern und mit Prachtfrisuren auf und ab. Hier werden sie mit den Schreckensbildern ihres Lebens konfrontiert: Hinter einem durchsichtigen Vorhang spielen sich die Gewalttaten der Vergangenheit wieder und wieder vor ihren Augen ab. Eine Unzahl von Statisten tummelt sich dort als recht handfeste Gespenster, ohne dass immer klar ist, wen und was sie darstellen. Wie ein heiterer Lichtblick in diesem düsteren Geschehen wirkt als Balletteinlage der Grotesk-Tanz einer der alten Damen im Nachthemd mit wirren, weißen Haaren. Die Ästhetik und Grazie, die für viele einen unabdingbaren Teil einer Oper des 18. Jahrhunderts ausmachen, gehen hier verloren. Der Eleganz Gluckscher Musik steht hier eine krassen Alltäglichkeit des 21. Jahrhunderts gegenüber. Aber trotz der Hässlichkeit des Dekors und zum Teil auch der Kostüme hat man anfänglich das Gefühl, die Rechnung könnte aufgehen, die Inszenierung könnte der Oper einen verstärkten Ausdruck verleihen. Doch je mehr die Handlung fortschreitet, desto mehr fällt diese Wirkung flach. Die Idee des Altenheims ist nicht folgerichtig bis zu Ende durchgeführt und immer weniger einleuchtend. Was machen die beiden gestrandeten Jünglinge dort? Warum sitzt Thoas einmal im Unterhemd im Rollstuhl auf der Bühne und dann wieder in Diktatoren-Uniform in einer Loge darüber? Auch die am Schluss eingesetzten Mord-Videos überzeugen nicht mehr. Die zittrige, alte Dame im Glitzerkleid, die die Iphigenie-Doppelgängerin schauspielerisch darstellen soll, geistert zwar immer noch auf der Bühne herum, aber sie zählt nicht mehr, stört auch nicht. Was jetzt überwiegt und umso stärker zum Ausdruck kommt, bis hin zum Finale, in dem die Griechen Iphigenie vor einem erneuten Opfertod retten, ist nur noch das gewaltige Musikdrama Glucks und eine Schar ausgezeichneter Sänger.

Es ist sicher ein interessanter Versuch einer modernen Ausdeutung des antiken Psycho-Dramas, aber vielleicht ist er zu ehrgeizig, zu anspruchsvoll, und dadurch zu kompliziert und zu verwirrend für den Zuschauer.

Es stellt sich hier wieder die Frage, ob die Ultra-Reformer unter den jungen Regisseuren nicht besser daran täten, ihre Ideen und Interpretationen, um nicht zu sagen ihre Fantasmen, mehr an den Opern des 20. oder 21. Jahrhunderts zu versuchen, statt verzweifelt der barocken, klassischen oder romantischen Oper die Züge unserer Zeit aufzwingen zu wollen.

Thomas Hengelbrock kennt das Werk Glucks wie wenig andere. Und er stellt diese Oper durch seine Neuerungen auf den ersten Platz unter den Werken Glucks. „Sie ist ein wesentlicher Meilenstein in der Geschichte der Oper“, sagt er. Er dirigiert sie mit enthusiastischem Schwung, aber auch, wie er selbst sagt, „in die Tiefe gehend … Das Minimalistische der Partitur erfordert sowohl das Kraftvolle als auch das Dunkle, ja sogar eine leichte Übertreibung der Kontraste.“

Tara Erraught meistert die schwierige Rolle der Iphigenie mit voller, klangreicher Mezzosopran-Stimme sowohl in den lyrischen als auch in den dramatischen Szenen. Sehr menschlich im erschütternden O malheureuse Iphigénie! Ta famille est anéantie! Und dann wieder sehr dramatisch in der Bravour-Arie Je t’implore et je tremble, ô Déesse implacable!  Jarret Ott ist trotz seines Hippie-Aussehens mit Sonnenbrille halbwegs überzeugend als der verzweifelte Orest. Das sehr eindringlich gesungene Streben nach dem Tod klingt wie eine Leçon de Ténebres bis hin zum zweispältigen Le calme rentre dans mon coeur. Mitreißend in der dramatischen Arie Dieux qui me poursuivez, die schon die dramatischen Szenen eines Don Giovanni ahnen lässt. Julien Behr ist der treue Freund Pylades, der einzige, der nicht von Furien getrieben wird, mit schön timbriertem, sehr lyrischem Heldentenor wie in der Arie Unis dès la plus tendre enfance. Den Skythenkönig Thaos verkörpert Jean-François Lapointe. Mit donnernder Baritonstimme macht er seinen Ängsten Luft in der Arie De noir presentiments mon âme intimidée, de sinistre terreurs est sans cesse obsédée. Den gut einstudierten Chor hört man nur, sieht ihn aber nicht.

Das Publikum ist sehr zufrieden. Nur der Regisseur und sein Team werden mehr mit „Buh“ als mit Beifall bedacht.

Gluck hat die Oper Marie-Antoinette gewidmet, und sie war zweifellos bei der Uraufführung anwesend. Ob wohl die Königin zwölf Jahre später, als sie als Gefangene in der Conciergerie saß, noch an diese Iphigénie gedacht hat? Ihre Brüder sind damals nicht gekommen, um sie vor dem Opfertod der Guillotine zu retten. Auch kein deus ex machina …

Ein denkwürdiger Abend!

Alexander Jordis-Lohausen