O-Ton

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Foto © Stefan Brion

Aktuelle Aufführungen

Liebe unter dem Stahlgerüst

HIPPOLYTE ET ARICIE
(Jean-Philippe Rameau)

Gesehen am
14. November 2020
(Livestream)

 

Opéra Comique, Paris

Sie wollten es, um jeden Preis, von den Hauptrollen bis zum letzten Techniker wollten sie, dass diese Aufführung allen Widrigkeiten zum Trotz stattfindet. Wochenlang haben sie geprobt. Besessen und fasziniert, hinter verschlossenen Türen, in doppelter Besetzung, damit sofort ein Ersatz da ist, sollte jemand krank werden. Bis zur Generalprobe immer mit Corona-Masken vor dem Gesicht und Distanz-Auflagen für die Musiker im Orchester-Graben. Alles haben sie auf sich genommen und sind durch diese Krise zusammengewachsen, wie kaum jemals ein Ensemble zuvor. Und sie haben es geschafft! Die Oper ist aufgeführt worden, zwar ohne Publikum im Saal, aber von Kameras aufgezeichnet und vom Fernsehsender Arte übertragen. „Wir kamen uns ein wenig wie in einem Werner-Herzog-Dokumentarfilm vor“, sagt die Regisseurin rückblickend.

Jean-Philippe Rameau, der „vielseitigste, produktivste und klügste Kopf“ unter den französischen Musikern seines Zeitalters, war zweifellos auch der bedeutendste und einflussreichste Komponist seiner Generation. Auf jeden Fall war er in gleichem Masse bewundert wie umstritten. Rameau ist schon 50 Jahre alt und soll bald darauf Hofkomponist Ludwigs XV. werden, als er 1733 die erste seiner 22 Opern zur Aufführung bringt: Hippolyte et Aricie. In dieser wie in seinen späteren „lyrischen Tragödien“ bereichert er erheblich die Klangfarben des Orchesters, und sein kompositorischer Einfallsreichtum ist so gewaltig, dass sein Zeitgenosse André Campra, als er den Hippolyte zum ersten Mal hört, sich zum Bonmot hinreißen lässt: „In dieser Oper ist genug Musik, um daraus zehn zu machen!“ Wie schon Lullys Opern, sollen auch Rameaus in gleicher Weise Ohrenschmaus und Augenweide sein. Rameau innoviert dabei besonders als Programm-Musiker. Unermüdlich versucht er die „schöne und einfache Natur“ nachzubilden. Seestürme, Gewitterszenen, Erdbeben, aber auch Meeresungeheuer oder Vogelgesang sind keine Seltenheit in seinen Werken. Er betreibt Tonmalerei, wobei sich das Orchester von reiner Begleitung zum selbstständigen Klangkörper entwickelt.  Doch trotz seiner Innovationen bleibt Rameau noch ganz im Rahmen der Barockoper, wenn er auch schon manchen Grundstein für den Übergang zur Klassik legt. Ja, sogar später in mancher Hinsicht zum Vorbild für Berlioz, Ravel oder Debussy wird. Und dieses Weitvoraussehen ist vielleicht nicht erstaunlich –  denn wenn zu Beginn seines für die damalige Zeit langen Lebens, das von 1683 bis 1764 währte, Lully die Musik am Hofe des jungen Ludwig XIV. noch ganz beherrscht, so war es Rameau am Ende seines Lebens noch vergönnt, den ganz jungen Mozart im Versailles des alten Ludwig XV. zu hören.

Foto © Stefan Brion

Das Textbuch der Oper Hippolyte et Aricie geht auf den griechischen Phaedra-Mythos zurück. Allerdings ist er hier in eine abenteuerliche Liebesgeschichte mit Happy-end umgewandelt. Die Regie der Oper ist der jungen Regisseurin Jeanne Candel übertragen.

Kurz vor seinem Wechsel von der Wiener Staatsoper zur Mailänder Scala antwortete Dominique Meyer auf die Frage eines Journalisten zur Opern-Regie: „Die Presse verlangt von den Regisseuren immer mehr Innovationen. Aber wenn man auf diesem Gebiet schon alles gemacht hat, alle Tasten der Klaviatur abgeklappert – das Klassische, das Moderne, die déconstruction, die Übertragung in eine andere Zeit, wenn auch nur um den guten Bürger zu schockieren … – dann ist es schwierig noch originelle Projekte zu finden. Mir tun die Regisseure sehr leid und oft auch die, die sie auswählen müssen …“

Ein wenig ist das auch hier der Fall. Nach eigener Aussage haben Candel, der Dramaturg Lionel Gonzalez und ihr Team 18 Monate lang über dem tragischen Stoff gebrütet: von der ursprünglichen Euripides-Tragödie über Plato, Racine bis zu Marguerite Duras, intellektualisierend und konzeptionell. Wie soll man diesen antiken Stoff, barock verniedlicht, aufarbeiten und einem Publikum des 21. Jahrhunderts schmackhaft machen? Keine leichte Aufgabe. Das Resultat ist im Großen und Ganzen nicht abwegig.

Im ersten Akt besteht das Bühnenbild der Lisa Navarro aus einem weißen Vorhang, dann aber aus bunten Klecksen, weil die Jagdgöttin Diana und ihr Gefolge mit ihren Flinten auf den weißen Vorhang schießen, was „Farbexplosionen“ auslöst. Die Idee dieses Happenings stammt von den „Schiess-Gemälden“ der Nicki de Saint-Phalles von 1961. „Ich bin überzeugt, der Raum ist Ort und Mittel, die Dramaturgie zu offenbaren“, erklärt die Regisseurin dazu. Vor diesem Hintergrund gestehen sich auch Elisa Benoit als Prinzessin Aricie, rothaarig und prä-raphaelitisch, mit vollem lyrischem Sopran und Reinoud van Mechelen als Prinz Hippolyte mit heller Tenorstimme ihre gegenseitige Liebe in  Nous brûlons des plus pures flammes, bis ihre ruhige Abgeschiedenheit und die der Diana-Priesterinnen durch das kriegerische Erscheinen der eifersüchtigen Stiefmutter Phaedra, die insgeheim auch Hippolyte liebt, gestört wird. Sylvie Brunet-Grupposo ist als Phaedra sowohl hier im ersten Akt Que rien n’échappe à ma fureur! als auch in ihrem Lamento Cruelle mère des amours im dritten Akt, schaupielerisch als auch stimmlich großartig und erschreckend zugleich. Sie ist immer begleitet von ihrer treuen Zofe Oenone, die von Séraphine Cotrez dargestellt wird. Zuletzt muss Eugénie Levebre als Jagdgöttin Diana selbst vom Olymp herabsteigen, um mit Autorität und fester Stimme die Ordnung wiederherzustellen.

Der zweite Akt ist karg und kalt und düster: die Unterwelt. Sie nimmt die Form eines ausweglosen, skeletthaften Stiegenhaus-Stahlgerüsts an, in dem ein Aufzug unablässig auf- und abfährt. Der Held Theseus, sehr eindrucksvoll gespielt und gesungen von  Stéphane Degout, ist in den Hades hinabgestiegen, um einen Freund zu retten. In einen langen Zweigesang erst mit Edwin Fardini als Tisiphone Laisse-moi réspirer, implacable Furie! Und dann mit Arnaud Richard als Pluto selbst Inexorable Roi de l’empire infernal plädiert er für seinen Freund, aber vergeblich. Ja, er hat Schwierigkeiten, selbst wieder in die Oberwelt zurückzukehren, und die drei Parzen, sehr reizvoll von drei hohen Tenören gesungen – Constantin Goubet, Martial Pauliat und Virgile Ancely – wollen ihn auch nicht sterben lassen. Die Ausweglosigkeit der Situation ist durch das Bühnenbild recht gut getroffen. „Die Beleuchtung verändert sich, aber der Raum bezeugt ausweglos: Theseus kann nicht dagegen ankämpfen, das Schicksal ist sein Gefängnis – wie die imaginären Kerker des Zeitgenossen Piranesi … Er kann auch den Brustkorb der Phaedra darstellen, in dem die verhängnisvollen Leidenschaften des Dramas Gestalt annehmen …“

Foto © Stefan Brion

Um der Prophezeiung der drei Parzen an Theseus: „Wenn Du das Inferno der Unterwelt verlässt, wirst Du es bei Dir zu Hause wiederfinden“ gerecht zu werden, lässt Candel die skeletthaften Stahlgerüste auch den Bühnenraum des Königspalastes im dritten Akt ausfüllen. Hierhin zurückgekehrt, entgeht der Held seinem Schicksal nicht: Er glaubt der Verleumdung, sein eigener Sohn sei Phaedras Ehre zu nahegetreten. Während das Ballett der Neptunschen Scharen in Badeanzügen und mit den verschiedensten bunten Masken versehen für etwas Heiterkeit auf den trostlosen Treppen sorgt, brütet Theseus Rache inmitten all dieser Ausgelassenheit und fleht Neptun an, seinen Sohn zu vernichten.

Für diese Masken, wie auch für die Kostüme haben Jeanne Candel und Pauline  Kieffer in Farben, Motiven und Stoffen ihrer Fantasie etwas freieren Lauf gelassen und – wieder nach eigener Aussage – bei Pier Paolo Pasolini, Ariane Mnouchkine oder bei Gewändern des osmanischen Reiches ausgiebig Anleihen gemacht.

Im vierten Akt, nach einem schwermütigen Lamento Hippolytes Ah! Faut-il en un jour perdre tout ce que j’aime? trifft er in einem Hain Dianas auf Aricie und sie beschließen, zu heiraten und gemeinsam zu fliehen; das heitere Ballett der Jägerinnen Dianas verfolgt währenddessen einen Hirsch, bis ein Meeresungeheuer den Prinzen mit sich in die Tiefe zieht.

Im letzten Akt erfährt Theseus die Wahrheit von der sterbenden Phaedra, die sich selbst das Leben nimmt, als sie erfährt, dass Hippolyte ihretwegen umgekommen sei. Zwar verkünden die Götter Theseus, dass sein Sohn in Wirklichkeit noch lebt, aber untersagen ihm, ihn jemals wiederzusehen.

Hippolyte und Aricie werden von Diana in ein sicheres Land gebracht und dürfen dort ihre Liebe leben.

Diese Regie wird vielleicht als Augenweide der Musik nicht immer gerecht, dafür fehlt ihr etwas an Poesie und Bezauberung. Die Musik hingegen ist von unglaublichem Reichtum, von gewaltiger Ausdruckstärke und von großer Sinnlichkeit. Raphaël Pichon bringt sie uns mit seinem Ensemble Pygmalion, der Maîtrise Populaire und allen Sängerinnen und Sängern in all ihrer Vielfalt nahe.

Und noch eine letzte Überraschung hält die Oper bereit: Nachdem alle die Bühne verlassen haben und  der letzte Ton verklungen ist, tritt plötzlich Lea Desandre als junges Schäfermädchen auf, wickelt sich langsam ihren Schal um den Hals, zieht sich Mantel und Handschuhe an,  setzt ihre Mütze auf und schiebt langsam ihr Fahrrad von der Bühne, während sie uns zum Abschied mit wunderschöner glockenklarer Mezzo-Sopranstimme, von Flöten begleitet, ein bezauberndes Liebeslied singt: Rossignols amoureux, répondez à nos voix. Betörender und stimmungsvoller hätte diese düstere Oper kaum ausklingen können.

Ein sehr bemerkenswerter und sehr lobenswerter Erfolg für die Opéra Comique in diesen traurigen Zeiten!

Alexander Jordis-Lohausen