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FIN DE PARTIE
(Györy Kurtág)
Besuch am
30. April 2022
(Premiere)
Jahrelang hat der ungarisch-französische Komponist Györy Kurtág darüber nachgedacht, wie er Samuel Becketts Theaterstück Endgame vertonen könne, bis er es schließlich 2017 mit über neunzig Jahren als Oper niederschreibt. Es ist seine erste vollendete Oper und ein dunkles Werk über Tod und den mühseligen Weg dahin.
In einer post-apokalyptischen, klaustrophobischen Welt leben vier Personen zusammen in einem Haus. Hamm, ein gelähmter, alter Mann im Rollstuhl, Clov, sein körperlich behinderter, hinkender Pfleger und dessen Eltern Nagg und Nell, die ohne Beine in zwei Mülltonnen vegetieren. Jede dieser vier Personen ist den anderen schwer erträglich geworden. Hamm geht Nagg und Nells ewiges Geschwätz auf die Nerven, die ihrerseits endlos miteinander streiten, und Clov kümmert sich voller Überdruss und Sarkasmus um alle drei. Bis am Ende nur Hamm allein zurückbleibt, weil die Eltern gestorben sind und Clov weggegangen ist. Es ist eine dramatische, emotionale, manchmal surrealistische, hin und wieder mit etwas schwarzem Humor durchwachsene Atmosphäre.
Der Regisseur der Oper, Pierre Audi, empfindet, dass Kurtágs Musik in Becketts kargem Text die psychologisch-emotionellen Seiten der Personen hervortreten lässt. Mag sein. Auf jeden Fall ist es eine dem Text Becketts durchaus entsprechende musikalische Sprache. Vielleicht, weil auch sie karg ist. Seine Musik ist unmittelbar und direkt, und wie sein langjähriger Freund und Landsmann György Ligeti es einmal ausdrückte, ist sie „von einer sehr komplizierten Einfachheit“. Vielleicht ist sie das Resultat einer langjährigen Synthese, denn wie er selbst einmal sagte, seine Muttersprache sei Bela Bartók. Aber er hat sich nicht nur von Bartók inspirieren lassen, sondern aus allen Zeitaltern der abendländischen Musikgeschichte geschöpft, beginnend mit der franko-flämischen Musik der frühen Renaissance über Schütz und Bach im Barock, Beethoven und Schumann in 19. und schließlich Webern, Messiaen und Boulez im 20. Jahrhundert.
Kurtág versucht nicht, mit der Vertonung der Oper die dunklen Seiten der Handlung aufzuhellen. Im Gegenteil, er unterstreicht noch, vor allem auch die Orchesterbegleitung, in der Bläser und Schlagzeug besonders zur Geltung kommen, das Beklemmende und Unheilvolle.
Audi gibt selbst zu, dass sich seine Regie der Oper, die er 2018 in Mailand zur Uraufführung geführt hat, bei jeder neuen Aufführung weiterentwickelt, weil er in diesem universellen Drama ständig neue Dimensionen entdeckt. Es ist vornehmlich seine sehr genaue Personenregie, die beeindruckt. Jeder Laut der Solisten oder des Orchesters ist weitgehend auf die Gestik und Mimik der Darsteller abgestimmt und umgekehrt. Manchmal, wie in der Anfangsszene beim Auftritt des Clov, ist es reine Pantomime.
Foto © Sébastien Mathé
Auf der Bühne steht nur ein einfaches, metallglänzendes Haus, von dem man je nach Szene eine andere Seite zu sehen bekommt. Das Haus selbst ist umgeben von einer Art Betonbunker. Die Beleuchtung ist grell, wobei die Personen, besonders in den Schlussepisoden, eindrucksvolle Schatten auf die Hauswand werfen.
Das musikalische Werk ist ein zwei Stunden langer, vom Orchester klangreich untermalter Sprechgesang in vierzehn Episoden, teils Monologe, teils Ensembleszenen. Dieser Sprechgesang ist für die Sänger zweifellos eine beachtliche Herausforderung, denn sie müssen ihn durch gurgelnde, gähnende, kichernde, ächzende, blökende, zittrige und andere auf der Opernbühne ungewöhnliche Laute bereichern.
Hillary Summers singt mit fast vibrato-freiem Mezzosopran die Rolle der Nell in der einen Mülltonne, gleich nebenan in der anderen gibt Leonardo Cortellazzi als Nagg ihr mit hohem Tenor die Replik. Stimmlich wie schauspielerisch ausgezeichnet und zum Teil sehr komisch, in der fünften Episode Poubelle, in der sie alte Erinnerungen an ihre Verlobungszeit auffrischen. Die einzigen, die sie noch zum Lachen bringen. Leigh Melrose verkörpert den ewig hin und her hinkenden Clov, der nicht zögert, seinen Bariton in die Kopfstimme aufsteigen zu lassen, um seiner Verbitterung Ausdruck zu verleihen, wie in der elften Episode Dernier Monologue de Clove. Schließlich ist Frode Olsen mit tiefem, sonorem Bariton der autokratische, manchmal sadistische Hamm. Er entfaltet sein schauspielerisches und stimmliches Talent ganz besonders in der surrealistischen Erzählung in der sechsten Episode Roman, wobei er Nagg, wenn dieser zuhört, ein Bonbon verspricht, es ihm aber nachher nicht gibt, weil keines mehr da ist.
Markus Stenz dirigiert die Oper mit großer Genauigkeit durch die sehr „kompliziert-einfache“ Partitur.
Die Pariser Oper gibt nach der Mailänder Scala und der National Oper Amsterdam der Oper ihre dritte europäische Erstaufführung in derselben Regie und mit denselben Solisten und demselben Dirigenten. Das Premieren-Publikum dankt es ihr mit anhaltendem Applaus.
Alexander Jordis-Lohausen