Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
Das Libretto der Oper geht auf eine wahre Begebenheit aus dem Terror der französischen Revolution zurück: Eine Frau in Männerkleidern lässt sich als Gefängniswärter anstellen und erreicht auf diese Weise, ihren Mann zu befreien, der dort willkürlich gefangen gehalten wird. Als einziges der verschiedenen Textbücher, die man ihm im Laufe der Jahre vorgeschlagen hatte, hat Beethoven diesen Fidelio akzeptiert. Die Uraufführung der Oper in Wien Ende 1805 ist ein völliger Misserfolg – Wien ist von den Franzosen besetzt, das Stammpublikum geflohen, und die Offiziere der Besatzungsarmee verstehen weder die Sprache noch das Werk. Erst eine mehrmalige Überarbeitung des Werkes bringt 1814 den sofortigen und anhaltenden Erfolg.
Raphael Pichon und sein Ensemble Pygmalion, das auf alten Instrumenten spielt, haben sich vor allem als Interpreten barocker und post-barocker Musik einen Namen gemacht, in der Tradition Harnoncourts, Jacobs, Christies oder Minkowskis. Diesmal haben sie sich zum ersten Mal an ein Werk Beethovens herangewagt. „Wir suchen nicht Authentizität, sondern die richtige Sprache, das heißt die richtigen Instrumente, die richtige Anzahl von Musikern, die akustisch richtigen Räume und Stimmen, die noch nicht vom späteren Repertoire geprägt sind“, erklärt Pichon. Heute suche man immer nach eine Leonore mit einer Riesenstimme, Das komme daher, dass man diese Oper in Riesen-Opernhäusern aufführt mit starkbesetzten Orchestern. Mit alten Instrumenten und im Rahmen einer kohärenten, post-Mozartschen Besetzung, brauche Leonore nicht diese Riesenstimme, sondern einen vielversprechenden Sopran mit einem weiten Register, das die Koloraturen erleichtere. Stimmlich sei es eine Rolle zwischen Vergangenheit und Zukunft, nahe dem Ende des 18. Jahrhunderts in machen Passagen, und in anderen, wie in der großen Arie im ersten Akt, nähere sie sich schon den großen Wagner-Rollen, denkt der musikalische Leiter. „Ich glaube, die Art und Weise, wie man diese Oper seit dem Ende des 19. Jahrhunderts besetzt hat, hat uns von der ursprünglichen Betrachtungsweise entfernt.“ Und er fügt hinzu: „Es ist eine Oper, die unglaublich der Zauberflöte ähnelt.“
Während also der Dirigent versucht, mit seiner musikalischen Interpretation des Werkes in die Vergangenheit zu führen, versetzen Regisseur Cyril Teste und sein Team in der bildlichen Darstellung die Oper vollends ins 21. Jahrhundert. „Um ein zeitgenössisches, politisches Gefängnis erstehen zu lassen, habe ich mich von den amerikanischen Hochsicherheitsgefängnissen inspirieren lassen, mit ihrer entmenschlichten Architektur und ihrer aseptischen Atmosphäre. Die künstliche Beleuchtung nimmt den Gefangenen das Zeitgefühl, Gedächtnis und Identität lösen sich auf“, sagt Teste.
Auch zeitgenössische politische Akzente sind gesetzt: Teste sieht Fidelio nicht als „eine Liebesgeschichte in einem Gefängnis“, sondern als „den Kampf, die Welt zu verändern, in der die Liebe nur möglich ist, wenn man die Bedingungen der Freiheit neu definiert.“ Für ihn hat die Oper auch eine feministische Dimension insofern, als er der politischen Brutalität eine Frau entgegenstellt, die das Gefängnis wieder menschlich macht.
Foto © Stefan Brion
Seine Inszenierung ist realistisch und kompromisslos. Schon als Initialschock wird die Ouvertüre von einem Video begleitet, das die Brutalität der Gefängniswärter gegenüber den Gefangenen zeigt. Die folgenden Videos begleiten die Handlung. Sie sind entweder aufgezeichnet oder werden, oft im close-up, direkt auf der Bühne mitgedreht und simultan übertragen. Es bringt die Darsteller und ihre Mimik den Zuschauern näher. Das Dekor ist blitzsauber, aber karg. Man kann ihm eine gewisse kühle Ästhetik nicht absprechen. Die Beleuchtung ist im Neonlicht kalt. Alles ist technologisch auf dem letzten Stand, alles wird mit Überwachungskameras kontrolliert. Die Gefängniswärter in schwarzen Lederuniformen sind bis an die Zähne bewaffnet. Die Gefangenen haben auf ihren rotbraunen Anzügen in großen Buchstaben „DPP“ gedruckt. Es ist dabei nicht klar, ob das Director of Public Prosecutions oder Dangerous Political Prisoner bedeuten soll. Im Finale überwindet Leonore den kaltblütigen Pizarro nicht mit der Pistole, sondern mit der Videokamera, die erbarmungslos alles aufzeichnet, was geschieht.
Musikalisch hält auch Pichon Wort und führt das Publikum mit einem sehr klangreichen Orchester, in dem vor allem die Bläser immer wieder aufleuchten, zurück ins 18. Jahrhundert. Es kommt noch hinzu, dass die Akustik der Opéra Comique bekannt geeignet ist für Opern des Barocks und der Klassik. Und während der ersten Szenen des ersten Akts ist man dann erstaunt, wie stark in diesem Fidelio Mozart anklingt, und besonders die Zauberflöte, wie Pichon es schon angekündigt hat. Aber auch während der leidenschaftlichen Hass-Arie Pizarros glaubt man sich fast ins Don-Giovanni-Finale versetzt. Eigentlich wird die Oper erst mit der großen dramatischen Arie der Leonore am Ende des ersten Akts wirklich Beethoven, obschon auch im zweiten Akt hin und wieder noch Mozartsche Töne anklingen.
Die Besetzung könnte einwandfrei sein, wenn nicht die junge australische Sängerin Siobhan Stagg stimmlich indisponiert wäre. So spielt sie zwar sehr eindrucksvoll die Leonore auf der Bühne und täuscht mit den entsprechenden Lippenbewegungen ihren Gesang vor, während die im letzten Moment eingesprungene Katherine Broderick im Orchestergraben vor einem Mikrofon die Singpartie übernimmt, die sie souverän und überzeugend bewältigt. Sehr schön in der großen Arie im ersten Akt mit der strahlenden Hörnerbegleitung Abscheulicher, wo eilst du hin? Diese Doppelbesetzung ist technisch so gut ausgeklügelt und die Stimme im Orchestergraben mischt sich so perfekt mit den Stimmen auf der Bühne, dass man den Ausfall fast nicht merkt. Fast, aber halt doch ein wenig. Michael Spyres überzeugt vollauf als Florestan. Seine bewegliche Tenorstimme bleibt in allen Lagen schön timbriert und seine schwierige Antrittsarie Gott, welch Dunkel hier! ist musikalisch wie szenisch zweifellos der Höhepunkt der Aufführung. Albert Dohmen als Rocco wirkt beruhigend altväterlich in dieser hyper-modernen, grausamen Umgebung. Mit klangvoller Baritonstimme singt er die Arie Hat man nicht auch Gold beineben im ersten Akt. Mari Eriksmoen ist als verliebte Marcelline bewegend, ihr jugendlich-frischer Sopran sehr einnehmend wie schon gleich in den Ensembleszenen am Anfang der Oper. Sehr glaubhaft hasserfüllt gibt sich Gabor Bretz als Pizarro, diabolisch-dramatisch in seiner Arie mit Chor Ha, welch ein Augenblick, die Rache werd ich kühlen. Linard Vrielink ist der diskrete Jaquino und nobel-würdevoll Christian Immler als Don Fernando. Alle Sänger geben sich große Mühe mit der deutschen Sprache, aber man merkt, dass einige sich dabei schwertun. Last but not least sei der kräftige Chor erwähnt.
Trotz eines Stimmausfalls gelingt der Opéra Comique wieder eine bemerkenswerte Aufführung. So denkt auch das Premierenpublikum und spendet einhelligen Beifall.
Alexander Jordis-Lohausen