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Faust als Unkultur

FAUST
(Charles Gounod)

Gesehen am
26. März 2021
(Premiere am 12. März 2021/Übertragung bei France 5)

 

Opéra national de Paris, Opéra Bastille

Charles Gounod ist 20 Jahre alt, als er zum ersten Mal auf Gérard de Nervals Übersetzung von Goethes Faust stößt und ist sehr beeindruckt. Doch sollten weitere 20 Jahre vergehen, bis der Komponist seine bekannteste Oper vollendet. Dieses Werk in seiner endgültigen Fassung ist schon nicht mehr opéra comique, schon ganz drame lyrique. Es wird zu Recht in Deutschland Margarethe genannt, denn mit Goethes philosophischen Themen hat die Oper wenig zu tun, sondern eher mit Fausts Sehnsucht nach Jugend, und vor allem mit dem Fall und der Erlösung Margarethes. Schon die Uraufführung 1859 beschied dem Werk einen anhaltenden Erfolg. Und noch heute ist Gounods Faust nach Carmen die beliebteste französische Oper.

Als sein Vertrag als Direktor der Pariser Oper im vergangenen Jahr nicht verlängert wurde, packte Stéphane Lissner schon einige Monate vor dem Ende seiner Amtszeit seine Koffer und rauschte nach Neapel ab, um dort San Carlo zu leiten. In Paris hat er dabei – nach altbewährter Devise:  Après moi le déluge! – nicht nur einen millionenschweren Schuldenberg hinterlassen, sondern auch zwei Neuinszenierungen. Beide Opern sind musikalisch hervorragend besetzt, beide Inszenierungen sind tendenziös – stand die erste, Aida, im Zeichen von Dekolonisierung und blackface,  so ist die zweite, Faust, wieder eine Kampfansage an die traditionelle Kultur.

Vor ein paar Monaten anlässlich des Beethoven-Jubiläums hieß der Schlachtruf dieser Ideologen:  pale, male, stale – weiß, männlich und veraltet. Hier sind nun Goethe und Gounod in ihr Visier geraten. Beim deutschen Regisseur Tobias Kratzer herrscht hauptsächlich das stale – veraltet – vor. Aber das genügt, um Kultur in Unkultur zu verwandeln.

Kratzer hat mit dem alten Goethe und auch mit dem alten Gounod offensichtlich nicht viel im Sinn – das ist old school – das ist überholt und muss modernisiert werden. „Musikalisch und thematisch ist das Werk von den Fragen der Moral des 19. Jahrhunderts geprägt. Statt sie zu ignorieren, haben wir versucht, sie vom Gewicht der Geschichte und der Religion zu befreien. Die hier behandelten Themen sind nun die urbanen und zeitgenössischen Ängste“, erklärt er dazu. Auch will er in Anlehnung an Gounods Version der Faustsage mit der „Manie der heutigen Gesellschaft, ewig jung bleiben zu wollen“ abrechnen. All das kommt in seiner Regie nur mangelhaft zum Ausdruck. Die Sehnsucht nach der Jugend insofern, als Faust, der durch Mephistos Hilfe jung und potent geworden ist, immer wieder mal dem Alter und der Impotenz verfällt, und erneut einen magischen Viagra-Trunk benötigt. Kratzer lässt dafür seit der Eingangsszene immer wieder mal den alten Faust als einen Doppelgänger auftreten. Kratzers Regie ist ein gemischter Sack voller Einfälle, die nicht immer gut sind. Aber es gelingt ihm halbwegs glaubhaft, die Handlung in das jugendliche Vorstadtmilieu einer Großstadt zu versetzen. Allerdings verändert er durch eigene seltsame Phantasmen wesentliche Teile der Handlung.

Man kann sich vorstellen, dass solche Phantasmen für die Ausführenden nicht einfach zu verkraften sind. Die Probenarbeit dürfte nicht immer einfach gewesen sein. Vor allem wirkt das, was Tobias Kratzer Ermonela Jaho als Margarethe zumutet, sehr unangenehm, um nicht zu sagen schockierend. Aber das war ja wohl auch die Absicht. Nicht nur sind die verzerrten Nahporträts in der Metro-Szene nicht sehr schmeichelhaft, aber schlimmer noch: auf offener Bühne, in einer frei erfundenen und völlig überflüssigen Klinikszene, seinen künstlichen, aber sehr wirklichkeitsnahen Neun-Monate-Schwangerschafts-Bauch für eine Echographie entblößen zu müssen, damit vage ein Teufelsembryo auf dem Videobildschirm sichtbar werden kann, und dazu Il ne revient pas! Il ne revient pas! zu singen, ist doch recht abwegig. Arme Margarethe! Das ist nicht erforderlicher Realismus, sondern provozierte Indezenz, um nicht zu sagen: Hässlichkeit oder sogar Erniedrigung. Was immer die Ideologie, es gibt Linien, die ein Regisseur nicht überschreiten sollte. Und die der Menschenwürde, auch die einer großen Sängerin, ist eine davon.

Man muss erklärend hinzufügen, dass bei Tobias Kratzer Margarethe ein naiv-törichtes Vorstadtmädchen ist, das in einem Gemeindebau wohnt und Faust in einer Disco kennenlernt. Sie wird darauf zum Sex-Objekt nicht so sehr von Faust, der im entscheidenden Moment gerade wieder einmal nicht mehr potent ist, als von Mephistopheles, der davon profitiert. Ihr Kind ist daher ein Teufelskind, das sie später, wie wir in einem Videos mitansehen dürfen, in der Badewanne ertränkt. Das ist Sensation, das ist event!  Es ist zweifellos von Polanskis Rosemary‘s Baby inspiriert. Solch eine Idee ist interessant, wenn man sie bühnenwirksam darstellen kann. Aber das ist hier nicht der Fall:  Was bei Polanski zu einer unheimlich-diabolischen Horror-Atmosphäre wird, fällt bei Kratzer flach aus, wird hässlich und technisch-zeitgenössisch. Die folgende Kirchenszene spielt in der Metro von Paris. Warum Metro, wird nicht erklärt. Man sieht recht gut gefilmte Bilder aus den endlosen, unterirdischen Gängen. Doch die sonst so innige Gebetsszene selbst und der Dialog mit Mephisto gehen schief, die Akustik ist schlecht, eine gute Choreografie in dem langen, schmalen, rollenden Metrowagen offensichtlich unmöglich und die Atmosphäre gewollt banal. Auf der positiven Seite sind – während der Chor singt – die Videobilder des in der Walpurgisnacht über das nächtliche Paris und die brennende Kathedrale von Notre Dame – sehr symbolisch – fliegenden Paares Faust und Mephisto, und später ihr Ritt hoch zu Ross über den hellerleuchteten, nächtlichen Place de la Concorde und die Champs Elysées hinauf, nicht gerade teuflisch oder hexenhaft, aber stimmungsvoll.

In der Schluss-Szene der Oper will uns der Regisseur noch einmal überraschen: Margarethe soll von den fünf Akolythen Mephistos mit in die Hölle genommen werden, wird dann aber – nicht etwa durch himmlischen Einspruch – gerettet, sondern durch den treuen Siebel. Aus Liebe zu Margarethe opfert er sich und wird an ihrer Stelle in die Hölle abgeführt, während der nun wieder alte Faust und Margarethe allein zurückbleiben.

Die Bühnenbilder und Kostüme Rainer Sellmaiers passen sich den Ideen des Regisseurs an. Fausts Wohnzimmer, modern, aber geschmackvoll, mit großer Bibliothek. Auerbachs Keller wird zu einem Vorstadt-Basketball-Platz, wo Valentin mit seinem Team trainiert und dazu aus Dosen Bier trinkt. Ein zum Zuschauer hin wie ein Puppenhaus geöffneter Gemeindebau mit den im Ikea-Stil möblierten Wohnungen von Margarethe im ersten Stock und Marthe im Erdgeschoss. Davor ein kleiner Platz vor dem Hauseingang, auf dessen Stufen Valentin reichlich Blut verströmend stirbt.

Die Kostüme sind zeitgenössisch, sehr viele T-Shirts und Basketballschuhe, schwarze Lederjacken, Mephisto ganz in schwarz mit langen Haaren und ungepflegtem Bart sieht aus wie Charles Manson. Faust meist mit grauer Hose und weißem T-Shirt, im letzten Akt trägt er dann noch Valentins Cowboyhut, Margarethe mit kurzem Röckchen und engem, quergesteiftem T-Shirt, Marthe in Bluejeans.

Die Beleuchtung Michael Bauers der meist nächtlichen Szenen ist gut. Manuel Brauns vielfältige Videos machen das Geschehen lebendig.

Der entschiedene Star des Abends ist Ermonela Jaho. Es gibt wohl kaum eine der großen Sängerinnen, die so in ihren Rollen aufgeht und uns damit tief bewegt wie sie. Sowohl schauspielerisch wie vor allem auch stimmlich durchläuft sie mit großer Menschlichkeit und vollendet nuancierter Stimmführung das Schicksal der fragilen Margarethe. Dass sie bei dieser Regie noch die dafür notwendige Konzentration aufbringt, ist umso bewundernswerter. Nachdenklich in der Ballade von König von Thule, dann wieder verhalten aufgeregt in der Juwelenarie Ah, je ris de me voir si belle. Benjamin Bernheim, in den letzten Jahren zu einem der ganz großen Operntenöre aufgestiegen, ist ihr gegenüber ein ebenbürtiger Faust.  Sehr lyrisch-rein in der Arie Salut, demeure chaste et pure sowie im Liebesduett mit Margarethe Il se fait tard. Christian van Horns Mephistopheles nimmt man das Diabolische ab. Er ist stimmlich tief orgelnd fundiert und schauspielerisch überlegen cool mit gelegentlichem, zynischem Humor wie in Le veau d’or. Florian Sempey ist glaubhaft der großsprecherische Vorstadt-Caid. Sein Avant de quitter ces lieux singt er mit sonorer Baritonstimme. Ganz in ihrem Element ist Sylvie Brunet- Gruposso als die mit allen Wässerchen gewaschene Marthe.  Michèle Losiers heller, jugendlicher Mezzosopran erfreut in der Rolle des schüchternen, selbstlosen Siebel. Die Aufführung zeichnet sich durch eine sehr gepflegte Diktion der Sänger aus.

Der Chor, der durchweg mit Masken singt, ist erfolgreich von José Luis Basso einstudiert. Lorenzo Viotto dirigiert kraftvoll Solisten, Chor und Orchester und schwelgt in Gounods Musik.

Vor einiger Zeit schon bemerkte Alain Duaults zur modernen Opern-Regie und zu der These, ob sie nicht als ein  „sozialer Revanche-Akt“ zu werten sei, also das Hässliche als eine Art Buß-Geste gegenüber dem vorgeblichen Prunk der Oper: „Man könnte aber auch sagen, eine Funktion der Oper sei es, dem Zuschauer Vergnügen zu bereiten und das Schöne sei ein Element des Vergnügens und die ästhetische Sublimation eine der möglichen Wege zur Veredlung des Menschen, die ihn aus seiner primären Beziehung zur Welt herausreißt. Dabei soll absolut nicht in Frage gestellt werden, dass die Kunst auch die Funktion hat, die Welt widerzuspiegeln – aber die Welt ist nicht immer hässlich!“ Aber das ist wohl auch „old school thinking“. Es läuft letztlich beim Regietheater immer wieder auf die Frage hinaus:  Wie weit darf der Regisseur seine eigenen Phantasmen ausleben, und wie weit muss er dem Werk dienen? Und jede Antwort darauf ist zwangsläufig subjektiv.

Als vor zehn Jahren in der Oper an der Bastille eine Neuinszenierung von Faust herauskommen sollte, hatte die Gewerkschaft der Bühnentechniker beschlossen, am Tag der Premiere zu streiken. Die Musiker und Sänger haben daraufhin kurzerhand auf dunkler Bühne, aber bei erleuchtetem Zuschauerraum eine mehr oder minder konzertante Aufführung gegeben. Es wurde ein schöner Abend! Sind wir vielleicht heute nun schon fast so weit, dass wir uns manchmal wünschen, die Bühnentechniker möchten doch mal wieder streiken?

Alexander Jordis-Lohausen