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Tartuffe bei Rossini

LE COMTE ORY>
(Giacomo Rossini)

Gesehen am
15. April 2020
(Stream)

 

Opéra-Comique, Paris

Le Comte Ory ist eine von Giacomo Rossinis späten, französischen Opern. Das Textbuch von Eugène Scribe erzählt die Geschichte des jungen, ausschweifenden Grafen Ory, der die Gelegenheit nützt, dass die ältere Ritterschaft auf dem Kreuzzug ist, um mit seinen liederlichen Freunden zu versuchen, als Mönche, Eremiten oder Nonnen verkleidet, die zurückgebliebenen Damen zu verführen.

Alberto Zedda schreibt dazu in seinem Buch Rossini-Streifzüge: „Die Maskerade wird zu einem Mittel der Ambivalenz; sie verbirgt mit dem Vorwand zu amüsieren das freche Treiben unter dem Anschein des Spiels und dementiert schließlich die Realität durch die symbolische Vorwegnahme von Taten, die zwar niemals zur Ausführung gelangen, aber durch die evokative Kraft der Musik in der Vorstellung des Zuhörers real werden. Das flüchtige Aufeinander von Schein und Wirklichkeit, Wirklichkeit und Phantasterei, Phantasterei und Traum bewirkt eine Atmosphäre raffinierter Erotik und weckt nicht eingestehbare Erwartungen. Die fortbestehenden Gefühle versuchen sich in die kalte Deutung des Verstandes zu retten, statt in der Verwirrung der Sinne aufzugehen, genau wie in Mozarts Così fan tutte. So gesehen erweist sich Le Comte Ory als eine bissige, auf tausenderlei Weise interpretierbare Komödie. Ihre faszinierende Musik erscheint nicht mehr als eine überhöhte Ausdeutung einer banalen Geschichte, sondern als der Motor eines außergewöhnlichen erträumten Abenteuers.“

Dabei ist – so erstaunlich das klingen mag – der größte Teil der Musik des ersten Akts und ein guter Teil des zweiten, fast ohne Änderungen, außer der des Textes natürlich, Rossinis drei Jahre früher entstandener Oper Il Viaggio a Reims entnommen. Und Rossini hat sie so genial mit den neu dazu komponierten Teilen „verkittet“, dass man, wenn man es nicht weiß, diese Oper ganz selbstverständlich für ein neues und homogenes Werk hält. Und doch bleibt Le Comte Ory ein Zwitter, denn die Oper ist weder eine französische opéra comique, in der die einzelnen Gesangsnummern von gesprochenen Dialogen unterbrochen werden, noch eine italienische opera buffa mit ihrem recitativo secco. Rossini kreiert hier eine amüsante Mischform mit durchkomponierten Rezitativen. Er nimmt gewissermaßen schon das spätere drame lyrique vorweg.

Die Oper wird sofort bei ihrer Uraufführung ein enormer Erfolg, nicht nur beim Publikum, sondern auch unter Musikern. Berlioz hält Le Comte Ory für ein Meisterwerk, das Beste, was Rossini je geschrieben habe. Rossini ist auf dem Höhepunkt seines Ruhms, bevor er sich nach einer letzten Oper – Guillaume Tell – mit 37 Jahren vom Musikleben zurückzieht, um die 39 restlichen Jahre seines Lebens unter anderem der Kochkunst zu widmen.

Le Comte Ory ist eine jener komischen Opern, die mit der Regie – und der Schauspielkunst der Sänger und Sängerinnen – stehen oder fallen. Der Regisseur Denis Podalydès und sein Team haben das Problem recht gut gelöst.  Die Handlung ist in die Zeit der Restauration verlegt, also in die Zeit, in der Rossini die Oper komponierte. Man glaubt daher manchmal, in ein Spitzweg-Gemälde versetzt zu sein. Es hätte ruhig noch ein wenig mehr Spitzweg sein können! In der Personenregie ist jede Mimik, jede Geste genauestens einstudiert. Es sprudelt von Ideen und witzigen Einfällen. Christian Lacroix hat sich dazu von Mode-Aquarellen jener Zeit zu hübschen, farblich sehr diskreten Kostümen inspirieren lassen und Eric Ruf hat viele kahle Wände und Neo-Gotik auf die Bühne gestellt. Stephanie Daniels Beleuchtung ist gedämpft wirksam und Cécile Bons   Choreografie ausgezeichnet.

Eine Opern-Übertragung im Fernsehen oder Internet, in der uns die Kamera oft sehr nah an die Sänger und Sängerinnen heranführt, statt nur die Gesamtbühne zu  zeigen, wie man es sonst gewöhnt ist, erlaubt, besonders bei einer Komödie, eine ganz andere Einschätzung der schauspielerischen Leistung und der Mimik der Protagonisten.

Philippe Talbot scheint für diese Tartuffe-Rolle des Comte Ory wie geschaffen zu sein. Als falscher Priester betört er gleich am Anfang des ersten Akts mit viel geschmeidigem Schmelz in einer salbungsvollen Predigt von der Kanzel herunter die weiblichen Schäfchen der Gemeinde mit seinen Worten der Liebe Que les destins prospères. Ein richtiger Tartuffe! Sogar die sonst so sittenstrenge Gouvernante Radegonde, hervorragend gespielt von Ève-Maud Hubeaux, gibt mit warmem, dunklem Mezzo ihrer Begeisterung Ausdruck. Er aber wartet auf die schöne Gräfin Adèle. Alle Frauen sind durch die lange Abwesenheit ihrer Männer liebeshungrig. Umso mehr verpasst Jean-Sebastien Bou, als der unablässig Schürzen jagende Diener Raimbaud, hier als Sakristan verkleidet, keine Gelegenheit, um sich an eine Schöne heranzumachen, besonders an die hübsche Alice in der Gestalt von Jodie Foster. Doch des Grafen strenger Erzieher, mit sonorem Bass von Patrick Bolleire gesungen, ist dem Tunichtgut auf der Spur, gibt aber auch lautstark zu verstehen, dass er es satt hat, ihn immer überwachen zu müssen Veiller sans cesse. Der junge Page des Grafen Isolier hingegen, eine Art Rossinischer Cherubino, charmant und witzig gespielt und in den Spitzentönen mühelos gesungen von Gaëlle Arquez, hat ganz andere Probleme: er hat sich in jugendlichem Ungestüm in die schöne Gräfin Adèle verliebt und sucht im komischen Duett Une dame de haut parage  bei dem falschen Priester Rat. Dieser ist nicht begeistert, einen Rivalen zu entdecken, aber hofft, es sich zu Nutze zu machen. Schließlich erscheint die schöne Gräfin Adèle und legt in einer großen Szene mit Chor die Beichte ihres Leidens ab. Julie Fuchs singt mit viel Empfindung und stimmlich sehr schön ihr En proie à la tristesse. Doch ist ihr Spiel etwas zu verhalten. Die Situation wirkt fast schon tragisch, bis die Handlung ab dem Celeste providence in hinreißenden Koloraturen wieder ins Komische zurückgleitet. Denn durch die Worte des falschen Priesters zur Liebe ermutigt, entbrennt die Gräfin plötzlich in Liebe, allerdings zum Leidwesen des Comte Ory, zum jungen Pagen Isolier. Noch dazu fliegt jetzt die Maskerade des Comte Ory auf, man verkündet, die heimkehrenden Kreuzfahrer seien nur noch zwei Tage entfernt und alles ist in totaler Konfusion im Finale des ersten Akts. Doch der Comte Ory will die Verführung der Gräfin Adèle keineswegs aufgeben, er hat ja noch zwei Tage Zeit.

Der zweite Akt wird noch mehr zur Burleske. Sie spielt in einem kahlen Saal in der Burg der Gräfin. Der Comte Ory und seine Kumpane haben sich diesmal als Nonnen verkleidet. Grotesker geht es nicht! Sie bitten während eines musikalisch und szenisch eindrucksvollen Gewitters um Aufnahme. Im anschließenden langen und musikalisch sehr hübschen Duett zwischen Comte Ory und der Gräfin Ah! Quel respect übertrifft sich Philippe Talbot als Oberin verkleidet in komischer Mimik und Gestik. Als dann der Diener Raimbaud im Keller Weinflaschen entdeckt, ruft er seine „Nonnenschwestern“ zum Feiern auf: Dans ce lieu solitaire, was in dem ausgelassenen Bacchanale Buvons, buvons endet. Es wird nur durch ein geheucheltes, frommes Gebet unterbrochen, als die Gouvernante eintritt. Schließlich finden im Widerstreit widersprüchlicher Gefühle der Comte Ory, der Page Isolier und die Gräfin Adèle nachts in ihrem Bett zusammen, zu dem ganz zarten Terzett À la faveur de cette nuit. Um noch einmal Alberto Zedda zu Wort kommen zu lassen: „Für dieses unergründliche Terzett komponiert Rossini eine himmlische Musik: Wie Mozart in Così fan tutte hüllt er die dunklen Regungen der Begierde in hauchzarte Stimmungen, indem er mit der höchsten Perversion der Unschuld zwischen Schlaf und Wachsein und zwischen Traum und Wirklichkeit schwebende paradiesische Wonnen mit maßlosen Schamlosigkeiten vermischt.“ Doch die Heimkehr der Kreuzfahrer verhindert weiteres „und alles kehrt zu seiner ursprünglichen Ordnung zurück: Die Moral ist gerettet; das Publikum kann in der Überzeugung, dass in Wirklichkeit gar nichts passiert ist, zufrieden nach Hause gehen.“

Der ausgezeichnete Chor les éléments bietet mit offensichtlicher Begeisterung individuell und als Ensemble all seine stimmlichen, aber vor allem auch all seine schauspielerischen Talente auf, um dieser spritzigen Komödie möglichst viel Lebendigkeit zu verleihen.

Louis Langrée dirigiert das Orchestre des Champs Élysées mit verhaltenem Schwung.

Es ist eine jener unterhaltsamen Aufführungen, deren Geheimnis die Opéra Comique besitzt.

Alexander Jordis-Lohausen