O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Emilie Brouchon

Aktuelle Aufführungen

Genuss auf den zweiten Blick

LA CLEMENZA DI TITO
(Wolfgang Amadeus Mozart)

Besuch am
6. Juli 2021
(Premiere am 10. September 2011)

 

Opéra National de Paris, Palais Garnier

Als die Böhmischen Landstände im Sommer 1791 für die Krönung Kaiser Leopolds II. zum böhmischen König in Prag bei Mozart eine Oper bestellen, ist der Komponist schon mit der Arbeit an der Zauberflöte beschäftigt. Mag sein, dass er sich daher nicht voll auf die Oper La Clemenza di Tito hat konzentrieren können – er soll die Komposition der Rezitative ganz seinem Schüler Süssmayr überlassen haben – oder dass die Art der opera seria, trotz der von Mozart verlangten Umarbeitung des Librettos von Metastasio, als zu steif und undramatisch beim Publikum nicht mehr ankommt, jedenfalls führt die Aufführung am 6. September zu keinem nachhaltigen Erfolg. Wohl hat Mozart zwischen Don Giovanni und Zauberflöte den Höhepunkt seines Opernschaffens erreicht, aber trotz einiger sehr schöner Momente scheint der Text ihn nicht wirklich inspiriert zu haben. Wie Arnold Feil bemerkt, haben „die Figuren im Titus kein musikdramatisches Leben, wie die des Figaro oder des Don Giovanni. Sie sind heroische Idealgestalten, die Musik vollzieht sich an ihnen, nicht sind sie selber Musik wie der Graf Almaviva oder der Don Giovanni.“ Fast auf den Tag genau drei Monate nach der ersten Aufführung dieser Oper stirbt Mozart.

Man hat bei Operninszenierungen in den letzten Jahren so viel Ungereimtes erlebt, dass Willy Deckers Inszenierung von 2011 uns heute fast klassisch vorkommt, ohne dabei verstaubt zu wirken. Sie ist unaufdringlich, bringt einige originelle Einfälle mit und vor allem sie ist durchdacht und konsequent in der Ausführung. Der Regisseur ist sich der Problematik dieser Oper Mozarts wohl bewusst. Er findet, dass es nicht leicht sei, „diesem letzten Werk Mozarts nahe zu kommen. Sobald man es versucht, weicht es zurück, wird unscharf, ist schwer zu fassen …“ Dennoch entdeckt er hinter der „faden Fassade“ bei näherem Hinsehen und vor allem Hinhören ein unglaublich komplexes und reiches Werk. Und vor allem „eine noch tiefere Traurigkeit als in Cosi fan tutte, wo der Komponist hinter der Maske der Burleske, der Tändelei und der Fröhlichkeit seine Resignation, seine Skepsis und seinen Pessimismus gegenüber der Unverlässlichkeit der Menschheit durchblicken lässt.“ Aber über diese Traurigkeit hinaus, spürt Decker in La Clemenza auch das Gefühl der Einsamkeit und der Absonderung, welche Mozart ja selbst in seinen letzten Lebensjahren verspürt haben muss. „Der Mensch Titus stürzt in die Einsamkeit und stirbt im selben Maße, wie sein seelenloses Standbild der offiziellen Persönlichkeit, des Helden, des Imperators wächst.“ Was aber Mozart interessiert hat, ist der Mensch, nicht der Caesar, und wenn man den betrachtet, „entdeckt man ein einsames, verletztes, vernichtetes Wesen, das in Melancholie und Verzicht lebt. Und hier beginnt die Wahrheit und die Größe von La Clemenza di Tito.“  Um diese Gedankengänge zu symbolisieren, stellt Decker einen riesigen Marmorblock als Zentralobjekt auf die Bühne, aus dem im Laufe des Geschehens die Monumental-Büste des Imperators ersteht.

Auch die Personenregie ist folgerichtig darauf ausgerichtet zu zeigen, dass alle Beteiligten, außer Titus selbst, nur die Verwirklichung ihrer eigenen Interessen anstreben. Publius, ein starrer Diener des Staates, fordert vom Kaiser, sich von der zu trennen, die er liebt, nur weil das Volk keine Ausländerin als Kaiserin duldet. Und Titus verzichtet. Servilia, nun als Kaiserin ausersehen, liebt nur Annius und gesteht es offen. Annius hofft nur, dass der Kaiser auch auf sie verzichtet, und der tut es. Obwohl er ein enger Freund des Kaisers ist, vermag der schwache Sextus Vitellia nicht zu widerstehen und tut alles, um ihr zu gefallen. Vitellia will die Macht und zwingt Sextus, den Kaiser zu ermorden. So wird der Kaiser verlassen, zurückgewiesen, verraten und fast ermordet. Er bleibt allein und sein Aufschrei an die Götter in seiner letzten Arie togliete a me impero – Nehmt das Reich von meinen Schultern – bleibt vergebens. Doch zwischen Strenge und Großmut wählt er die Großmut und vergibt allen.

Neben dem großen Marmorblock beschränkt John Macfarlane die Kulissen auf bewusst schiefe Architekturelemente und einige kleinere, unbehauene Marmorbrocken. Seine Kostüme im Stil des Rokokos sind farblich hübsch aufeinander abgestimmt. Witzig sind die pompösen, extravaganten Prunkfrisuren des Chors in der Schlussszene. Dagegen wirkt die kaiserliche Pappmaché-Krone eher lächerlich.

Stanislas de Barberac führt als Titus den Reigen an. Mit gediegener Stimme, den triumphierenden Heldentenor vermeidend, passt er sich erfolgreich den wechselnden Stimmungen seiner Rolle an. Besonders sensibel in der Arie mit Chor Ah no, sventurato im zweiten Akt. Michèle Losier ist stimmlich als auch schauspielerisch bewundernswert als der zwischen Freundschaft zu Titus und Liebe zu Vitellia hin und hergerissene Sextus. Ihre Arie Parto, parto im ersten Akt mit Klarinette obbligato als Begleitung ist eine wahre Pracht. Es sei hier bemerkt, dass die Klarinette ein Neuling im Orchester der Wiener Klassik ist. Ein neues Instrument, dessen vollen Klang Mozart offensichtlich sehr geschätzt hat. Jedenfalls hat er ihr hier wieder eine sehr schöne Rolle vorbehalten. Die Rolle der Vitellia ist zwar eine Sopranrolle, war jedoch von Mozart ursprünglich für eine Altistin geschrieben und erfordert daher eine für Sopran ungewöhnliche Stimmlage. Amanda Majeski gelingt es ohne allzu große Schwierigkeiten, sowohl in die ungewöhnlichen Tiefen hinabzusteigen als auch die hohen Lagen zu meistern. Sie verleiht damit der unerbittlichen, Macht heischenden Intrigantin eine fast unheimliche Glaubwürdigkeit, wie im gewaltigen Rondo Non più di fiori vaghe catene am Ende des zweiten Akts. Christian van Horn überzeugt uns mit kraftvoller Bassstimme als der eherne, unbeugsame Diener des Staates, wie im dramatischen Terzett Se al volto mai ti senti im zweiten Akt, in dem er autoritär der erregten Vitellia und dem flehenden Sextus gegenübersteht. Last but not least das fröhliche junge Liebespaar Servilia und Annius: Anna El-Khashem spielt und singt mit frischem, jugendlichem Charme die immer fröhliche, hoffnungsvolle Servilia, Jeanne Ireland, etwas verhaltener, den besorgten Annius. Mozart hat ihnen im ersten Akt ein bezauberndes, fast volksliedhaftes Duett beschert: Ah, perdona al primo affetto.

Mark Wigglesworth dirigiert Chor und Orchester der Opéra national de Paris, sowie die Solisten umsichtig und ohne Exzesse.

Sicherlich, La Clemenza die Tito ist nicht eine von Mozarts großen Opern. Da man aber bei den oben genannten Vorbehalten geneigt ist, sich dieser Oper mit negativen Vorurteilen zu nähern, muss man dann mit Genugtuung feststellen, dass sie ja doch ein ganz Reihe großartiger Szenen Mozartscher Opernmusik enthält, die einen keineswegs indifferent lassen. Ein erfreulicher Abend, und das Publikum ist sehr angetan!

Alexander Jordis-Lohausen