O-Ton

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Aktuelle Aufführungen

Nicht ganz gelungenes Aschenputtel

CENDRILLON
(Jules Massenet)

Besuch am
26. März 2022
(Premiere)

 

Opéra national de Paris, Bastille

Die meisten Opernfreunde kennen Rossinis La Cenerentola, aber nur wenige wissen, dass auch Jules Massenet eine Aschenputtel-Oper geschrieben hat.  Sein Cendrillon, 1899 uraufgeführt, wird ein sofortiger Publikumserfolg. Während Rossini in seiner Opera buffa an der handfesten Wirklichkeit festhält, gibt sich Massenet in seinem Märchen in vier Akten nach Perrault mit Genuss der Fantasie und der Theaterzauberei hin. Dabei gibt er die Rolle der Fee einem Koloratursopran, der Prinz wird wie Cendrillon von einem Sopran gesungen, was ihnen eine gewisse Ebenbürtigkeit verleiht. Auch ist der Oper eine im Märchen nicht enthaltene Szene hinzugefügt, in der Cendrillon und der Prinz einander im Zaubergarten der Fee wiedersehen. Durch diese Szene erübrigt sich weitgehend die Suche nach dem zum verlorenen Pantoffel passenden Fuß, weil sich die beiden Liebenden am Ende der Oper sofort wiedererkennen.

Massenets Melodik ist leicht und gefällig, ohne ins Oberflächliche oder Sentimentale abzugleiten, die dramatische, und auch zauberhafte Wirkung seiner Orchestration gekonnt. Sein Schüler Claude Debussy nennt ihn den „musikalischen Historiker der weiblichen Seele“ und erklärt: „Er hatte das Genie der hellen Tönung und der geflüsterten Melodien in Werken, die aus Leichtigkeit gemacht sind.“

Laut eigener Aussage macht es sich die Regisseurin Miriame Clément zur Aufgabe, ganz im Sinne des Märchens, eine Geschichte zu erzählen, die unterhält, aber die auch zum Nachdenken anregt. Und sie will sich dabei auch die nötige Freiheit nehmen, solange das Märchen nicht entstellt wird. All das ist Clément und ihrem Team trotz humorvoller Einfälle nur teilweise gelungen.

Eingangs entspringt einem Cocktail aus 19.-Jahrhundert-Fortschrittsglaube, Jules Vernes, Mitsommernachtstraum und einem Schuss Roald Dahl, der Clou der Inszenierung, nämlich eine Riesen-Zauber-Maschine, an der das Opernatelier vier Monate lang gearbeitet hat. Diese Maschine, die den ganzen Bühnenraum einnimmt, zischt, faucht, dampft, leuchtet und blitzt. Aber vor allem, sie macht es möglich, dass ein junges Mädchen, wenn man es dürftig gekleidet auf der einen Seite hineinsteckt, als Prinzessin herausgeputzt, mit Korkenzieher-Locken und rosaroter Krinoline auf der anderen Seite wieder herauskommt. Und mit diesem Monstrum eröffnet die Regisseurin die Oper. Einer der großen Kessel dieser Maschine öffnet sich dann auch im gegebenen Moment, und dem glitzernden Inneren entsteigt zwar nicht die sternflammende Königin der Nacht, aber die ebenso Koloratur singende, sternglitzernde gute Fee, umgeben von ihren Schmetterlingselfen. Sie macht es dann auch möglich, dass ihr Schützling ins Prinzenschloss befördert wird, nicht in einer Kürbiskalesche, wie das Märchen von Perrault es vorschreibt, nein, viel fortschrittlicher, sehr malerisch in einer Montgolfière.

Das Dekor des zweiten Akts – die Ballszene – ist inspiriert von der Stahl-Architektur des Petit Palais in Paris, das ungefähr zur selben Zeit wie die Oper entstand. Die Kostüme dazu sind rosarote Krinolinen für die Damen, Frack und Zylinder für die Herren. Auf diesem Ball entledigt sich Cendrillon ihres glitzernden Abendkleids, fühlt sich im Unterkleid offensichtlich wohler und freundet sich in dieser Aufmachung mit dem Prinzen an. Intellektuell und psychologisch vielleicht nachvollziehbar, aber nicht sehr bühnenwirksam. Bis dahin kann man den Ideen der Regie noch halbwegs folgen.

Doch im dritten Akt scheint Cléments Inspiration dann endgültig der Atem ausgegangen zu sein. Das ist umso bedauerlicher, als das Liebesduett im Zauberwald mit der lyrischen Orchesterbegleitung sicherlich zu den schönsten Duetten zweier Frauenstimmen der Opernliteratur zählt. Doch in dieser Inszenierung irren die beiden Liebenden in einer Art Untergeschoss mit unzähligen großen Heizungskesseln hin und her, bis sie zueinander finden vor einem geöffneten Kessel, in dem ein blutrotes, überdimensionales, anatomisches Herz wild schlägt. Das lässt, bei bestem Willen, keine Stimmung von Zauberwald, ganz zu schweigen von magischer Märchenhaftigkeit aufkommen. Als positiv lässt sich noch anführen, dass jeder Akt durch ein diesmal ganz ins Märchenhafte gehende Scherenschnitt-Video eingeführt wird.

Musikalisch hat Carlo Rizzi als Dirigent und musikalischer Leiter gute Arbeit geleistet. Mit dem Orchester, dem Chor der Pariser Oper und den Solisten schöpft er sowohl die operettenhaft komischen, als auch die lyrischen und dramatischen Szenen der Partitur voll aus.

Tara Erraught ist schaupielerisch wie stimmlich sehr bewegend als Cendrillon. Ihr reiner, weicher, sehr sinnlicher, vibratoreicher Sopran ist ebenso überzeugend in den lyrischen Szenen, oft mit betörender mezzavoce, wie in Ah! que mes soeurs sont heureuses am Ende des ersten Akts, wie auch in der dramatischen Szene Enfin, je suis ici zu Beginn des dritten Akts. Ihr gegenüber die Sopranrolle des Prinzen wird hier sehr wirkungsvoll vom Mezzosopran Anna Stephany gesungen. Mit kraftvoller und intensiver Stimme erläutert uns der gelangweilte Prinz in seiner Antrittsarie im zweiten Akt Allez laissez-moi seul seinen Lebensüberdruss. Diese beiden Stimmen sind wunderschön aufeinander abgestimmt, wie in der schon oben erwähnten Zaubergartenszene im zweiten Teil des dritten Akts À deux genou, Bonne Marraine. Madame de la Haltière, die davon besessen ist, ihre Töchter standesgemäß an den Mann zu bringen, ist schauspielerisch überzeugend interpretiert von Daniela Barcellona als tyrannischer Hausdrache. Stimmlich wünschte man sich manchmal, dass auch ihre Stimme die Szene etwas mehr beherrscht. Kathleen Kim glitzert nicht nur von oben bis unten, sondern beeindruckt auch durch makellose Spitzentöne und Koloraturpartien als die Gute Fee. Dem Pantoffelhelden und Vater gelingt es nur selten, sich seiner Frau gegenüber durchzusetzen, doch schön und empfindsam singt Lionel Lhote die Szenen, in denen er allein mit seiner Tochter Cendrillon Zwiesprache hält. Charlotte Bonnet und Marion Lebègue singen und spielen mit viel Slapstick-Humor die beiden, hier eigentlich recht freundlichen Stiefschwestern. Philippe Rouillon ist der würdige, um seinen Sohn besorgte König. Alle anderen Sänger ergänzen vorteilhaft das vielköpfige Ensemble.

In dieser trüben Zeit ist das Publikum, darunter viele Kinder, sehr erfreut, etwas Heiteres vorgeführt zu bekommen.

Alexander Jordis-Lohausen