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Carmen, diese exotisch-sinnliche Weiblichkeit, die Prosper Mérimée 1830 von einer Spanien-Reise nach Paris zurückbrachte, ist wohl die berühmteste Vorgängerin von Marlene Dietrichs Blauem Engel von 1930. Eine frei und unabhängig sein wollende Frauenfigur, die ihren Liebhaber bis hin zum tragischen Ende zunehmend erniedrigt und dann wegstößt. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, dass bei den Proben zur Uraufführung der Oper die Sängerin Célestine Galli-Marié, die erste Carmen, eine nicht unbedeutende Rolle gespielt haben soll, nicht nur bei der theatralischen Darstellung der Zigeunerin, sondern auch bei der Entstehungsgeschichte ihrer musikalischen Charakterisierung. So soll sie beispielsweise Bizet weitgehend beeinflusst haben, einen „exotischen“ Stil für ihre Auftrittsarie, die Habanera, zu finden. Es soll der Sängerin dabei weniger um das Vokal-Virtuose als um die psychologische Verkörperung dieser unabhängigen Frauenfigur gegangen sein, was für die damalige Zeit neu ist.
Foto © Stefan Brion
Doch für das gut-bürgerliche Publikum der Opéra Comique von 1875 ist sowohl der Stoff, die Interpretation als auch die Musik höchst skandalös. Und am Schluss auch noch ein Mord auf offener Bühne – so etwas Schockierendes hat es ja noch nie gegeben. Die Kritik der Uraufführung ist vernichtend. Einen obszönen, obskuren Wagnerianer schimpft die Presse den Komponisten. Dabei hat Carmen mit Wagner höchstens die Idee des Leitmotivs gemein, das sich wie ein roter Faden durch die ganze Oper zieht. Nur Kenner wie Camille Saint-Saëns, Jules Massenet oder auch Johannes Brahms, von Friedrich Nietzsche ganz zu schweigen, erkennen sofort das Neue, das Bedeutende dieser französischen Oper des „psychologischen Realismus‘“. Erst einige Jahre später, von der Wiener Oper ausgehend, tritt Carmen dann ihren Siegeszug auf den internationalen Bühnen an und gehört heute zu den beliebtesten Werken des lyrischen Repertoires. Die heute besprochene Carmen-Aufführung war somit auch schon die 2998ste im Hause seiner Uraufführung von vor fast 150 Jahren. Doch Georges Bizet hat diesen Triumph nicht mehr erlebt. Er ist drei Monate nach der Uraufführung mit 36 Jahren gestorben.
Wie soll ein Regisseur bei einer so langen Erfolgsgeschichte noch etwas Neues hinzufügen? Zurück zur ursprünglichen Version war die eine Antwort, das heißt man hat die von Ernest Guiraud nach Bizets Tod komponierten Rezitative, die üblich geworden sind, weggelassen und die gesprochenen Teile wieder hergestellt, was der alten Tradition einer Opéra comique entspricht. Im Übrigen muss man Andreas Homoki und seinem Team zugutehalten, dass sie nicht versucht haben, mit etwas provozierend Sensationellem Aufsehen zu erregen. Sie beschränken sich in dieser Inszenierung auf ein Minimal-Dekor, bestehend aus einer rauen Ziegel-Stahl-Wand im Hintergrund und davor verschiedene Vorhänge, vor die sich die Solisten gegenüber dem Chor isolieren können, und auf wenige Requisiten. Homoki konzentriert sich auf die Personenregie, die gut gelungen ist, und auf die Choreografie. Mit den Kostümen des Chors durchwandert er dann die Jahrhunderte. Im ersten und zweiten Akt ist es die Belle Époque mit Gehrock, Frack und Zylinder oder Abendkleid – erstaunlicherweise sind auch die Soldaten so bekleidet – von denen Carmens folkloristisches Kostüm gewollt „exotisch“ absticht. Dieser Gegensatz geht in der Folge verloren. Denn im dritten Akt ist er dann schon bei der Straßenkleidung der 1940-er Jahre und im vierten im 21. Jahrhundert bei T-Shirt, Pullover, Bluejeans und Basketballschuhen angelangt. So angetan lagern sich dann auch jung und alt vor einem alten Fernsehapparat, um den Stierkampf in der Arena mit anzusehen, zu kommentieren und sich wie bei Neujahr mit Konfetti zu bewerfen. Nur Carmen trägt hier ein langes, schwarzes Abendkleid und Escamillo eine Stierkampf-Parade-Uniform. All das ist nicht sehr kohärent, aber es begleitet sehr lebendig und bei ausgezeichneter Choreografie die von Ideen übersprudelnde Musik.
Foto © Stefan Brion
Die musikalische Darbietung ist ein Vergnügen. Gaëlle Arquez fühlt sich offensichtlich wohl in der Titelrolle. Sie singt und spielt die Zigeunerin voller Charme und Sinnlichkeit, dabei stolz und unnachgiebig, wenn es um ihre Freiheit geht. Ihre Interpretation ist sehr menschlich, manchmal hätte man sie fast noch ein wenig mehr dämonisch-unheimlich gewollt. Ihre an Nuancen reiche Stimme passt sich all ihren Gemütsbewegungen an, wie in der leichtfertigen Chanson bohème Les tringles de sistres tintaient im zweiten Akt. Die undankbare Rolle des pflichtbewussten, schwachen, zögerlichen und ewig eifersüchtigen Don José spielt und singt sehr glaubhaft Frédéric Atoun, sehr dramatisch im Schlussduett C’est toi mit Carmen. Elbenita Kajtazzi als Micaëla entfaltet einen leuchtenden Sopran in ihrer großen Arie Mon guide avait raison im dritten Akt. Nicht weniger erfreulich ist der ellenlange Hüne mit Donnerstimme Jean-Fernand Setti als Escamillo. Auch die Nebenrollen sind gut besetzt. Francois Lis ist der knöcherne Leutnant Zuniga. Matthieu Walendzik und Paco Garcia als Dancaire und Le Remendado ebenso wie Norma Nahoum und Aliénor Feix als Frasquita und Mercédès bescheren mit Carmen das überaus heitere, fast operettenhafte Schmugglerquintett Nous avons en tête une affaire. Und Jean-Christophe Lanièce eröffnet die Oper mit klangvollem Bariton.
Der Chor accentus leistet einen kraftvollen Beitrag. Und der bezaubernde Kinderchor der Maîtrise Populaire wirkt wie eine Illustration von Slum-Kindern aus einem Dickens-Roman.
Louis Langrée, international bekannter Dirigent, ist gleichzeitig auch Direktor der Opéra Comique. Er dirigiert hier das Orchestre des Champs-Élysées schon in der Ouvertüre mit stürmischem Tempo und lässt es auch in der Folge nicht an Lebendigkeit und Beweglichkeit fehlen.
Das Publikum ist hoch zufrieden, und die Opéra Comique kann diese Koproduktion mit der Oper Zürich wieder als einen schönen Erfolg verbuchen.
Die Oper wird ab dem 21.Juni 2023 auch auf arte.concert zu sehen sein.
Alexander Jordis-Lohausen