O-Ton

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Foto © Emilie Brouchon

Aktuelle Aufführungen

Belcanto vom Feinsten

I CAPULETI E I MONTECCHI
(Vincenzo Bellini)

Besuch am
21. September 2022
(Premiere)

 

Opéra national de Paris, Bastille

Anfang 1830 erteilt das Teatro La Fenice in Venedig Bellini einen Schnellauftrag, der ihm nur knapp sieben Wochen Zeit zum Komponieren lässt. Es ist daher nicht erstaunlich, dass mehr als die Hälfte der Musik dieser neuen Oper aus überarbeiteten Stücken aus Bellinis eben durchgefallener Oper Zaira stammt. Und diesmal wird die neue Oper wieder ein Erfolg. Noch einmal schluchzen die Damen in den Logen heiße Tränen bei seinen romantischen Kantilenen. Doch diesmal, wie Hans Renner meint, wächst der Komponist darüber hinaus, „in der Sterbeszene von Romeo und Julia verdichtet sich sein Belcanto in schon vor-Tristanisch chromatischen Wendungen zu einer ausdrucksstarken Lyrik, die bis hoch ins 19. Jahrhundert nachwirkte.“

Bemerkenswert ist auch, dass Felice Romanis Textbuch nicht auf Shakespeares Stück zurückgreift, sondern er sich an dessen ursprüngliche, italienische Quellen aus dem 15. Jahrhundert hält: Capellio, Oberhaupt der Capuleti, die Guelfen und damit Anhänger des Papstes sind, weist, entgegen dem Rat seines Freundes und Arztes Lorenzo, das Versöhnungsangebot Romeos, des Oberhaupts der Montecchi, die Ghibellinen und damit Anhänger des Kaisers sind, schroff zurück, weil Romeo seinerzeit seinen Sohn in einer Schlacht getötet hat. Romeo schlägt überdies vor, dass er, um die Versöhnung zu besiegeln, Capellios Tochter Julia, in die er heimlich verliebt ist, heiraten wolle. Doch auch das wird abgelehnt. Umso mehr so, als Julia Capellios Gefährten Tebaldo heiraten soll. Aber auch sie ist in heimlicher Liebe zu Romeo entbrannt. In einem von Lorenzo arrangierten heimlichen Treffen beschwört Romeo seine Geliebte, mit ihm zu fliehen, aber zwischen ihrer Liebe zu Romeo und der Pflicht ihrem Vater gegenüber hin- und hergerissen, lehnt sie ab. Um aber ihrer Hochzeit mit Tebaldo zu entgehen, trinkt sie, wenn auch zögernd, den Schlaftrunk, den Lorenzo ihr bereitet hat. Vor dem bald darauf vorbeiziehenden „Leichenzug“ Julias verzichten Tebaldo und Romeo auf ein tödliches Duell. In der Gruft vor Julias vermeintlichen Leichnam vergiftet sich Romeo, der von Lorenzos Plan nichts erfahren hatte und sie wirklich tot glaubt. Doch sie erwacht, bevor er stirbt, aber bringt sich in ihrer Verzweiflung nach seinem Tod ebenfalls um.

Robert Carsen beschränkt sich in seiner schlichten, unaufdringlichen Inszenierung von 1996 auf Michael Levines einfache, holzgetäfelte, verschiebbare Wände, die in sich wandelnder Zusammenstellung und mit nur wenigen modernen Möbelstücken das Bühnenbild ausmachen. Die Kostüme sind der Renaissance nachempfunden, alle Capuleti in Rot, alle Montecchi in Schwarz. Und alle tragen lange Schwerter. Allein Julia trägt ein langes, weißes Prunkkleid. Die Personenregie ist sorgfältig, die Choreografie und Beleuchtung gelungen.

Piotr Kaminski schreibt über die Oper: „Wenn I Capuleti e i Montecchi Bellinis großen Meisterwerken vielleicht nicht gleichkommt, so können ein paar außergewöhnlich gute Interpreten diese vielfach schöne Partitur auf eine Ebene emporheben, wo wirkliche Gnadenmomente nicht fehlen werden.“ Genau das kann man bei dieser Aufführung fühlen oder, besser gesagt, hören.

Julia Fuchs bietet, ob lyrisch wie in der elegische Romanze im ersten Akt Un refrigerio ai venti io chiedo invano oder dramatisch wie in der Stretta im Finale desselben Akts eine überaus nuancierte Interpretation der Julia. Bewegend und bewundernswert besonders ihr mezzavoce, vor allem in den hohen Lagen.

Die Rolle des Romeo hat Bellini weder für eine Männerstimme noch für einen Kastraten, sondern für einen Mezzosopran geschrieben. Anna Goryachova hat eine Stimme, die sowohl in den hohen wie in den tiefen Lagen ihre reiche, sinnliche Klangfarbe behält. Sie liefert uns einen feinfühligen, aber wenn nötig auch streitbaren, durchaus glaubhaften Romeo, wie in der Cabaletta Ah! mia Guiletta! Vieni, ah! vieni, in me riposa mit seinen synkopierten Rhythmen.

Und vor allem diese beiden Stimmen im Wechselgesang oder gemeinsam lassen uns jene Gnadenmomente erleben, von denen Kaminski spricht. Die Liebesszene im zweiten Akt ist ein Bellini auf ganz hohem Niveau und zweifellos der Höhepunkt der Oper. Mit seinen oft endlos langen legati sehr betörend.

In Francesco Demuro hat Tebaldo einen feurigen Interpreten gefunden. Seine helle Tenorstimme bleibt auch in Spitzentönen gut kontrolliert. Nach einer kurzen Chor-Einleitung eröffnet er die Oper mit O di Capellio, generosi amici und mit dem leidenschaftlichen Liebesgeständnis L’amo tanto, e m’è si cara … Jean Teigen ist mit rauer Stimme und grimmiger Miene der unerbittliche Capellio, und Krzysztof Bączyk mit warmem, schön timbriertem Bass der wohlmeinende Arzt Lorenzo.

Ching-Lien Wu hat dem Chor martialische Kräfte einstudiert. Und Speranza Scappucci dirigiert Solisten, Chor und Orchester schwungvoll, aber ohne Exzesse.

Es gibt viel Szenenapplaus und begeisterten, langanhaltenden Schlussapplaus für alle Ausführenden. Ein erfreulicher, vielversprechender Auftakt für die neue Saison.

Alexander Jordis-Lohausen