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Auf dem Gebiet der Opernliteratur gilt Giacomo Puccini allgemein als ein Vertreter des italienischen Verismus, eine Bewegung, die sich von der Romantik und dem Idealismus durch eine präzisere Darstellung der Wirklichkeit zu distanzieren versucht. Stoff dazu bieten häufig Themen der sozialen Gegebenheiten des ausgehenden 19. Jahrhunderts, vornehmlich die des Kleinbürgertums, der Künstlergemeinschaften oder der Arbeiterklassen. Im Gegensatz dazu, so heißt es, zog es der Realist Verdi vor, seine Wirklichkeit zu ‚erfinden‘.
In der Tat enthalten Puccinis Operntexte schroff realistische Szenen, doch seine Musik ist weder revolutionär noch ein Bruch mit seinen Vorgängern. Von der italienischen Romantik übernimmt er den Belcanto, lässt sich von Debussys Klangfarben und von Wagners Leitmotiv-Ideen inspirieren und bei Bizet und Massenet entwickelt er sein untrügliches Gefühl für bühnenwirksame Effekte. Dabei liegt ihm besonders die musikalische Charakterdarstellung großer Frauengestalten wie die der Tosca, der Cio-Cio-San oder der Liù am Herzen. Oder, wie hier, die der Mimì, bei der schonungsloser Verismus gemildert wird durch die vielleicht etwas sentimentale Gefühlswelt des jungen Künstlermilieus, das kein Geld, aber unbegrenzte Begeisterungsfähigkeit hat.
Foto © Vincent Pontet
Regisseur Eric Ruf hat dafür seine eigene Definition: „Bohème entspricht einem Zustand, in dem man nicht vorhandene Kaufkraft durch Heiterkeit, Freundschaft und Fantasie ersetzt!“ Von dieser happy-go-lucky-Devise ausgehend „erfinden“ er und sein Team in enger Zusammenarbeit mit dem Dirigenten Lorenzo Passerini eine „Wirklichkeit“ als Gesamtkunstwerk mit sehr stimmungsvollen Bildern einer winterlichen, verschneiten Biedermeierstadt, in der trotz Armut und Kälte das „kleine Volk“ von Paris ein bewegtes Leben führt. Darüber schweben in der Musik eine leise Wehmut und eine Sehnsucht nach einem Frühling, den die schwindsüchtige Mimi nicht mehr erleben wird. Rufs Personenregie ist sehr genau und, trotz der gelegentlichen leidenschaftlichen Ausbrüche in der Partitur, sehr natürlich und lebensnah. Die Bühnenbilder sind im zweiten und dritten Akt an klassizistische Architektur-Teile angelehnt, gemischt mit den für Ruf unerlässlichen Stahlgerüsten. Statt der engen Mansarden-Bude im ersten und letzten Akt, in der Rodolfo und Marcello hausen, verlegt Ruf die Szene und das Stelldichein der vier Freunde auf die Bühne des Théâtre des Champs-Élysées, wo Marcello den Auftrag hat, den Vorhang zu malen. Ein origineller, wenn auch anachronistischer Einfall, denn das TCE ist ja erst ein knappes Jahrhundert später entstanden, aber den dargestellten Vorhang soll es früher tatsächlich gegeben haben.
Die Kostüme, die Christian Lacroix eigenhändig bis ins kleinste Detail entworfen hat, entsprechen dem Biedermeier von 1830, der Zeit also, in der die Handlung spielt, auch farblich entsprechen sie den kolorierten Mode-Lithografien jener Epoche. Glyslaïn Lefevers Choreografie des Chors und der Statisten ist, besonders im dritten Akt, im turbulenten Bild des Cafés Momus, sehr gelungen. Bertrand Coudercs Beleuchtungen tragen wesentlich zur stimmungsvollen Atmosphäre der vier Bilder bei.
Foto © Vincent Pontet
Selene Zanetti beschert uns stimmlich und schauspielerisch eine bewegende und ausdrucksstarke Mimì. Ihre lyrischen Momente sind von großem klanglichem Reichtum, ihre leidenschaftlichen Ausbrüche von großer Leuchtkraft. So stellt sie sich schon im ersten Akt vor: Mi chiamano Mimì. Ihr gegenüber ist Pene Pati der Poet Rodolfo, lyrisch zart und am Anfang noch etwas verhalten, als er mit ihr Bekanntschaft macht: Che gellida manina, aber immer strahlender, wenn die Liebesleidenschaft ihn anweht. Der Ausdruck einer großen Liebe. Wie anders bewegend klingt dann, zwei Akte später, Mimìs Arie D‘onde lieta usci, als sie sich entschließt, ihn mitten im Winter zu verlassen, dann aber doch noch den Frühling abwarten will. Die beiden Hauptdarsteller werden wiederholt mit begeistertem Szenenapplaus bedankt. Alexandre Duhamel ist mit warmem, vollem Bariton der Maler-Freund Marcello. Francesco Salvadori als Schaunard mit elegantem Bariton und Guilhem Worms als Colline mit sonorem Bass sind der dritte und vierte im Bunde der Überlebenskünstler. Die Oper enthält nur wenige Arien, doch dafür sehr eindrucksvolle Ensembleszenen, darunter das humorvolle Quintett, in dem die vier Freunde im ersten Akt den Hausbesitzer Alcindoro – sehr komisch von Marc Labonnette gesungen – loswerden, als der die Miete eintreiben will: Dica, quant‘ anni ha. Amina Edris als Musetta spielt und singt im Café Momus klangvoll sinnlich und provozierend ihren Walzer Quando me’n vo soletta per la via.
Rodolphe Briand als der von Kindern umlagerte Spielzeugverkäufer Parpignol, Théo Kneppert und Arthur Cady als Zöllner und Simon Bieche als Strassverkäufer vollenden das durchweg ausgezeichnete Ensemble. Das Bühnenspektakel erreicht seinen Höhepunkt im großen Auflauf vor dem Café Momus im zweiten Akt. Man muss hier Gaël Darchen ein besonders Lob spenden für die Einstudierung des Chors Unikanti und der Maîtrise des Hauts-de-Seine.
Dirigent Lorenzo Passerini sagt über die Oper: „Die Partitur von La Bohème klingt scheinbar sehr einfach, doch wimmelt sie in Wirklichkeit von lauter Details, die das Dirigieren gefährlich machen“. Er hat all diese schwierigen Details offensichtlich meisterlich überwunden, denn er bietet eine glanzvolle, wenn auch eher maßvolle Interpretation der Oper.
Das Premieren-Publikum weiß das zu schätzen und spendet allen Ausführenden einen nicht enden wollenden Schluss-Applaus.
Alexander Jordis-Lohausen.