O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Andy Spyra

Aktuelle Aufführungen

Die Lust am Fremden

MUSIK DER ROMA
(Diverse Komponisten)

Besuch am
8. November 2021
(Einmalige Aufführung)

 

Morgenland-Festival, Osnabrück

Erst schlieren Violinen. Dann klinken sich Holzbläser ein. Wie in einem Urnebel entsteht das erste Thema der Gypsy Rhapsody Nr.1 Op.15. Roger Moreno-Rathgeb, der in den Niederlanden lebende Sinto-Komponist, hat sie 2015 geschrieben. Mit dem Blick auf Feierlichkeiten der Stadt Frankfurt am Main anlässlich der 600 Jahre zurückliegenden ersten urkundlichen Erwähnung von Roma in der Stadt. Die folgenden Teile der Rhapsody lassen signifikante Muster der Roma-Musik aus ihrer vielschichtigen Musiktradition neu erleben. Temperamentvolle Melodieströme alla zingarese, melancholische Abschnitte mit einer schluchzenden Oboe im Zentrum, Tanzelemente nach „Zigeunerweisen“, die Zigeunerkapellen in den Cafés von Wien und Budapest einst zu einem eigenen Genre formen.

Mehr und mehr nimmt die Gypsy Rhapsody Fahrt auf, sorgen Blechbläser im Verein mit der Trommel für prägnante Rhythmen und flammenden Spirit. Grollende Kontrabässe und die große Pauke grundieren ein mitreißendes Finale. Kann ein Einstieg in ein Konzertprogramm im Rahmen eines Festivals packender sein, das die Musik der Roma in sein Zentrum rückt?

Den Roma- und Sinti-Philharmonikern mit ihrem Gründer und Dirigenten Riccardo M Sahiti am Pult gelingt die Introduktion wie das gesamte Programm mit ausgewählten Filetstücken der Musik der Roma bei der 17. Ausgabe des Morgenland-Festivals Osnabrück fulminant. Zweieinhalb Stunden später, nach der letzten Zugabe, lässt sich konstatieren: Ein Orchester und ein Festival haben sich gesucht und gefunden.

Unter den gut 2000 Musikfestivals in Deutschland ist das Morgenland-Festival im niedersächsischen Osnabrück ein exquisites. Seit 2005 leuchtet es die Musikkultur des Nahen wie des Mittleren Ostens aus. Eine Region, die häufig unter dem uneindeutigen Begriff des „Orients“ gefasst wird. Seiner Intention folgend, schafft es Begegnungen mit Stilen und Richtungen der Musik im Iran, in Kurdistan und Irak, Syrien, in der Türkei und weiter gen Osten bis in die zentralasiatischen Republiken Kasachstan und Kirgisistan. Das Spektrum reicht dabei von traditioneller Musik bis zu Avantgarde, Jazz und Rock.

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Insbesondere im 18. und 19. Jahrhundert begeistern sich Komponisten, Maler und Dichter für die Kulturen im Osten, zumeist in romantischer Überhöhung. Mozarts Entführung aus dem Serail und sein Klavierrondo Alla Turca sind wohl die bekanntesten Beispiele in der Klassik. Karl May, Hauff, Hesse und Goethe nehmen Elemente aus dem Spannungsverhältnis von Orient und Okzident in ihre Werke auf. Orientforscher wie der aus Basel stammende Johann Ludwig Burckhardt liefern der Intelligenzia im Westen für ihre Orient-Träume neue Nahrung.

Mit den Stereotypen der romantischen, zum Teil naiven Orientierung an der Welt jenseits des östlichen Mittelmeers hat Michael Dreyer, Gründer und Künstlerischer Leiter des Morgenland Festivals, nichts im Sinn. „Unser Schwerpunkt liegt auf einer Region, die unmittelbar positive wie negative Klischeebilder hervorruft. Diesen Bildern will das Festival ein möglichst authentisches entgegensetzen“, sagt er. So ermöglicht er seinem Publikum und seinen Gästen die Begegnung mit dem Anderen „als ein komplexes, mal verwandtes, mal inspirierend Fremdes“.

Solche Begegnungen weisen stets in zwei Richtungen. Zum Festival werden Solisten und Ensembles aus der Region nach Osnabrück oder in andere Spielstätten zu Konzerten und Projekten eingeladen. Umgekehrt werden Orte in Iran, Irak, Syrien, Jordanien, Kasachstan, Libanon und der Türkei zu Schauplätzen von Chor- und Orchesterprojekten, die Dreyer mit Partnern initiiert. 65 Musiker aus neun Ländern lädt das Festival 2013 zu einem mehrtätigen Gastspiel nach Erbil und Sulaimaniya in den kurdischen Teil des Irak ein.

Als Nukleus von Dreyers Festivalidee lässt sich die Begeisterung des gebürtigen Göttingers für den Iran beschreiben, seine Menschen, seine Natur, seine Musikkultur. Seine Emphase für das Land inspiriert Dreyer, der Konzertgitarre an der Musikhochschule Münster studiert, zu ersten Austauschprojekten. In das Jahr 2005 fällt sein erster Aufenthalt im Iran, dem viele folgen werden. 2007 kommt es dort zu einem ersten Festival-Gastspiel.

Foto © Andy Spyra

Zu den Höhepunkten des Festivals gehört die Iran-Premiere der Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach 2008. Instrumentalisten der Osnabrücker Sinfoniker und des Tehran Philharmonic Orchestra führen gemeinsam mit dem Osnabrücker Jugendchor das Werk auf. Die Aufführung in der Hauptstadt des Iran ist nicht frei von Risiken. Öffentliches Singen ist Frauen nicht erlaubt. „Wir haben aber dennoch einen Weg gefunden“, berichtet Dreyer. Bilder von der Aufführung zeigen singende Frauen mit Kopftuch in Aktion, Bachs Partitur in den Händen.

Im ungeachtet der Corona-Auflagen erfreulich gut besetzten Europa-Saal der Osnabrücker Stadthalle erklingt vor der Pause des Konzerts mit den Roma- und Sinti-Philharmonikern Sergeij Rachmaninows Capriccio Bohémien. Vollendet hat es der russische Komponist 1894 als gerade mal 21-jähriger. Die Fantasie über Themen der Roma-Musiktradition mit ihrem folkloristischen Gepräge ist ein Furiosum der Lebensfreude, ein Gewitter an überkochendem Esprit. Es dauert nicht lange, bis das ohnehin für die Musik der Fremde aufgeschlossene Osnabrücker Publikum das Lebensgefühl der Künstlernatur Rachmaninow teilt.

Die Frage, ob Musik unmittelbar Reaktionen auslöst, wird an diesem Abend gleich mehrfach beantwortet. Gefühle des Wohligen bei Astor Piazollas Oblivion in der Bearbeitung für Violine und Orchester mit dem „Paganini unserer Tage“, Roby Lakatos, und dem Cymbalisten Lászlo Rácz, beide mit ungarischen Wurzeln. Lodernde Begeisterung bei George Enescus Rumänischer Rhapsodie Nr. 1 A-Dur für Orchester. Deren Zwilling, die Rhapsodie Nr. 2 D-Dur, die bekanntere der beiden, gehört zum Standardrepertoire von Sahitis Musikern.

Der Dirigent des Konzerts, Ricardo M Sahiti, der aus dem serbischen Teil des heutigen Kosovo, Mitrovica, stammt und heute deutscher Staatsbürger ist, inspiriert „seine Philharmoniker“ mit jeder Faser von Körper und Geist. Temperamentvoll treibt er an, geht er mit, wenn die Partituren abrupt wechselnde Takt- und Zeitmaße erfordern. In sich versunken verharrt er, wenn sich der Dom der Klänge wie in der Enescu-Rhapsody aus ersten lyrischen Bausteinen formt.

Sahiti, den Sachwalter einer Kultur, die im 19. Jahrhundert die angesagten Komponisten von Haydn über Brahms bis Bizet zu Adaptionen in ihren Werken motiviert, erfüllt eine Idee, besser noch: eine doppelte Vision. „Ich möchte jenen Klängen und Stilrichtungen eine öffentliche Bühne schaffen“, erklärt er, „die in der Musikkultur der Roma verankert und aus dem europäischen Kulturerbe nicht wegzudenken sind.“ Zugleich will Sahiti, der Diskriminierung von ethnischen Minderheiten ganz persönlich erlebt hat, ein markantes Zeichen gegen Vernichtung und Vertreibung, gegen Ausgrenzung und Abschottung setzen. Eine Botschaft von historischer Relevanz in einer Zeit, in der sich die Völker Europas ihrer gemeinsamen Kulturgeschichte bewusster werden, bisweilen mehr als schmerzlich.

„Sinti und Roma haben der Menschheit viel gegeben“, betont Sahiti, „aber sie haben davon nur sehr wenig zurückbekommen.“ Was unter dieser „Gabe“ zu verstehen ist, wird mit den Kompositionen Memory of Bihary und Hejre Katy für Violine und Orchester von János Bihary/Ivo Csàmpi geradezu ekstatisch evident. Lakatos zaubert die Klangbilder mit der Virtuosität eines Dämons hervor, vor den Philharmonikern bisweilen wie ein Dompteur auf- und abgehend. Wie weit und auch bizarr die von Roma inspirierte Musikkultur heute reichen kann, demonstriert die tschechische Sängerin und Geigerin Iva Bittová mit Roma-Wurzeln und Wohnsitz New York. Ihr Stück Ne nehledej für Stimme, Violine und Orchester mit dem vom kanadischen Komponisten André Ristic im Auftrag des Morgenland-Festivals erstellten Orchesterarrangement zeigt eine Künstlerin in Aktion, die Singen und Geigenspiel just in time kombiniert. Sie verblüfft mit perkussiven Lauten, die einer archaischen Welt anzugehören scheinen. Auch sie bewegt sich über lange Sequenzen vor den Pulten der Philharmoniker.

Im Saal rauscht immer wieder der Jubel im Parkett auf, als sich Musiker und Solisten zu Zugaben in wechselnder Zusammensetzung zusammenfinden. Da passt einfach vieles, wie zu sehen und zu hören ist. Die Intention des Festivals, die Identität und Qualität der Philharmoniker und die Aufgeschlossenheit des Publikums. Eine Morgenland-Fahrt ist vorbei, die nach Neuauflagen ruft. Nicht nur in Osnabrück.

Ralf Siepmann