O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Jesús Vallinas

Aktuelle Aufführungen

Energiequellen

STRAWINSKY
(Douglas Lee, Goyo Montero)

Besuch am
28. Dezember 2019
(Premiere am 21. Dezember 2019)

 

Staatstheater Nürnberg, Opernhaus

Dieser Ballettabend ist wie eine Energieentladung der Körper, angetrieben von einer energetisch aufgeladenen Musik. Nicht umsonst heißt er nur Strawinsky. Am Nürnberger Opernhaus zeigen Douglas Lee und Goyo Montero neue Choreografien zu Petruschka und Le Sacre du Printemps des Komponisten. Der eine zu den noch von volkstümlichen Elementen durchzogenen Musik von 1911, mit Hinweisen auf Reales, also Jahrmarkt und dort auftretende Figuren wie Puppen, der andere zu den irritierenden, eruptiv sich auftürmenden Klangmassen von 1913, mit abstrahierten Bewegungen einer verunsicherten, von einer ungreifbaren Macht gesteuerten Gesellschaft, aus der sich schließlich eine einzelne Figur herauslöst.  Ob sie erlöst oder geopfert wird, bleibt unklar, ebenso wie vorher, ob der ermordete Petruschka nicht als Seele oder Geist weiterlebt. Bei beiden Teilen des Abends fällt am Ende der Vorhang abrupt, Dunkelheit tritt ein. Der Zuschauer wird entlassen in seine eigene Vorstellungswelt. Weder Musik noch Bild geben eine Antwort. Dass es heute nicht mehr, wie bei der Uraufführung in Paris durch die legendären Ballets russes, zu einem Skandal, zumindest zu Missfallen kommt, liegt auch an der Faszination durch die spannende Tanz-Optik und die Überwältigung durch die Musik.

POINTS OF HONOR

Musik



Tanz



Choreografie



Bühne



Publikum



Chat-Faktor



Beide Ballette finden statt vor einem schwarzen Hintergrund. In Petruschka, ausgestattet von Eva Adler, deuten Vorhänge, verschiebbare Podeste und zeitweiliges Licht nur an, dass es hier um eine Vorstellung wie auf dem Jahrmarkt mit Puppen und Zuschauern geht.  Letztere sind in lila-nachtblauer Kleidung eine eher homogene, sich häufig synchron bewegende Masse; farblich akzentuiert passen dazu die drei Protagonisten mit dem Zirkusdirektor,  die ungeheuer flexible, eitle Ballerina, die anmutige Yeonjae Jeong, die traurig melancholische, bemitleidenswert einsame Gestalt des Hampelmanns Petruschka, Alexsandro Akapohi, sein Rivale, der gewalttätige „Mohr“, Lucas Axel, auch einmal als „Tanzbär“ grotesk bedrohlich, und alle angeleitet von der elegant-geheimnisvollen Figur des „Magiers“ in Anzug und Zylinder, von einer Art Conferencier, Edward Nunes. All diese Gestalten bewegen sich laut Douglas Lee zwischen der Welt der Menschen und dem Reich der Puppen in einer Zwischensphäre. Wenn die ganze Gruppe mit „Glühbirnen“ faszinierenden Tanz-Zauber entfaltet, ist das eine Referenz an die Zirkuswelt, wobei der Magier in der Deutung des Choreografen ein karnevalesker Scharlatan ist, ein hinterhältiger Charakter, für Illusion zuständig. Die Anspielungen Strawinskys in musikalischen Motiven wie etwa der Walzer weisen auf innere Zustände hin, und das Ballett verstärkt auch äußerlich die Spannungen zwischen den Welten, zwischen Illusion und Wirklichkeit, zwischen verzaubernder Künstlichkeit und brutaler Realität. All das wird mitreißend vermittelt durch Joana Mallwitz am Pult der äußerst aufmerksamen Staatsphilharmonie Nürnberg; die lässt nie zu laut spielen, aber immer vordrängend, wo nötig, lässt die folkloristischen Anklänge an russische Volksmusik aufleben, und   auch die heftigen Aggressionen und der Farbenreichtum der Partitur werden in brillanter Klarheit ausgelotet.

Foto © Jesús Vallinas

Eine Spur monumentaler, kraftvoller, exzessiver und abweisender ist die Musik zu Sacre, oft durchpulst von einem stampfenden Rhythmus, beklemmend und packend von der Dirigentin und dem Orchester unmittelbar gestaltet. Das Tanzgeschehen auf der Bühne von Eva Adler aber wirkt nicht so schockierend und gewalttätig. Montero lässt seine 21 Ensemble-Mitglieder alle in leicht verwaschenem Rot auftreten, in oft zerschlissener Kleidung von Angelo Alberto, wobei eine ursprüngliche Uniformierung zu ahnen ist, als Hinweis auf eine fast untergegangene Gesellschaft; er nennt sie „postapokalyptisch“, auf der Suche nach einer „Entität“, also einer übergeordneten, kaum greifbaren Macht, hier symbolisiert durch einen monströsen Licht-Ring mit 40 so genannten „Moving-Lights“; dieser riesige Kranz senkt sich von oben herab, verströmt Energie, steht schief, und Gestalten der Gruppe wollen hindurch treten und so in eine andere, neue Dimension transformiert werden, eine neue Existenz erlangen. Das ist ihr Bestreben. „Le Sacre du Printemps ist ein soziologisches Ballett … Wir werden Zeuge der Bewegungen der Menschen zu einer Zeit, als er noch nicht als Individuum existierte“, merkte Jacques Rivière schon 1913 an. So lässt Montero seine Tänzerinnen und Tänzer sich in Gruppen, Reihen formieren, als Schwarm ohne Leitung; auch als Paare haben sie keinen wirklichen Zusammenhalt, trennen sich bald wieder; nur die Kolonne, der Kreis zählt. Dennoch sehnen sie sich nach einem, der sie befreit von ihrer Abhängigkeit von anderen, von der Verehrung eines irgendwie „Göttlichen“, das sie gemeinsam geschaffen haben. Also wählen sie zuerst einen Mann, Alexsandro Akapohi, vermutlich wegen seiner Stärke, und versuchen, ihn in den leuchtenden Kreis zu schicken. Als der nichts ausrichtet, schubsen sie ihn herum, werfen ihn hoch, tun ihm Gewalt an, werfen ihn weg. Nur eine Frau, Sofie Verwaecke, nimmt sich des Ausgestoßenen an, kümmert sich um ihn, legt sich auf ihn, hebt ihn auf, zeigt also Empathie. Sie ist die einzige, die im inneren Ring standhält, sich bis zur totalen Erschöpfung mit Sprüngen, Gesten, Rollen körperlich völlig verausgabt, auch mental. Ihr „Opfer“ für die Gruppe aber endet in einer Art Nichts: Sie kann die Einzelgänger nicht zu Paaren zusammenschließen, sie aus ihrer Ich-Bezogenheit herausführen, und auch der Versuch, nach der Gottheit im Licht des Rings zu greifen, bleibt trotz extremer Streckung ohne Ergebnis. Der Ring verschwindet. Faszinierend aber bleibt die Energie, mit der die „Auserwählte“ ihr Solo tanzt, mit fast berstender Spannung. Das Opfer einer Frau für die Gesellschaft wird eigentlich in Frage gestellt im letztlich pessimistischen Schluss. „Was ich eigentlich zeigen will, ist, dass wir diese Opfer nicht brauchen, wenn wir über genügend Empathie verfügen; Fortschritt wurde nie durch Blutvergießen und ähnliche Grausamkeiten erreicht, sondern durch Wissen und Vernunft“, sagt Montero dazu. Der Choreograf gibt also keine konkrete Deutung, sondern will zum Weiterdenken anregen.

Die Besucher im bis auf den letzten Platz ausverkauften Opernhaus sind völlig begeistert und feiern Corps, Dirigentin und Orchester minutenlang.

Renate Freyeisen