O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Ludwig Olah

Aktuelle Aufführungen

Wirtschaftssoldaten

DIE SOLDATEN
(Bernd Alois Zimmermann)

Besuch am
17. März 2018
(Premiere)

 

Staatstheater Nürnberg

Am 20. März 2018 jährt sich der Geburtstag von Bernd Alois Zimmermann zum 100. Mal. Aus diesem Grund führt das Staatstheater Nürnberg dessen epochales Meisterwerk, seine Oper Die Soldaten auf. Ein Wagnis! Schon vor der geplanten Uraufführung 1960 durch die Städtischen Bühnen Köln zeigte sich, dass sich das Haus wegen des immensen Aufwands zunächst eine Umsetzung nicht zutraute. Auch heute können nur größere Theater eine solche Realisierung stemmen. Zimmermann ließ die Oper also zwei Jahre ruhen in einem „Streik als Mittel zur Wahrung von Würde und Wert des Werkes“, nahm aber 1962 die Arbeit dran wieder auf, erlebte zwei Jahre darauf endlich die Uraufführung und fügte in die mehr von metrischen Reihen und symmetrischen Gesichtspunkten konzipierte Komposition nun eher seriell Bestimmtes, instrumentale Vor- und Zwischenspiele ein, Streicher-Klangflächen, Kammermusikalisches, nahm Zeitschichten auf, die er mit Zitaten, auch außermusikalischen Inhalten füllte. Zu Beginn des vierten Aktes schichtete er beispielsweise mehrere Kurzszenen übereinander, so dass Einzelnes nicht mehr zu verstehen ist, sich aber ein komplexer Eindruck von Verwirrung ergibt. Für Zimmermann ist die Oper totales Theater; dabei denkt er an das Phänomen der pluralistischen Oper, an die Vision eines runden Klangtheaters, an die von ihm viel beschworene Kugelgestalt der Zeit. Durch Band-Einspielungen versuchte er, eine Art Rundum-Klang zu realisieren. In Nürnberg versucht man diesen Effekt dadurch zu verwirklichen, dass die Zuschauer im vierten Akt auf der Bühne stehen und von allen Seiten beschallt werden, wobei sich manche die Ohren zuhalten. Abgesehen von solchen kompositorischen Vorgaben, die einiges von der Umsetzung verlangen, bereitet eine Realisierung schon vom Aufwand her den meisten Theatern Kopfzerbrechen. In Nürnberg sind über 100 Musiker und Musikerinnen im Orchester beteiligt. Vor allem für Schlagzeuger sind die Anforderungen dieses Werks, das vom eisernen Rhythmus geprägt ist, enorm. 25 sind im Einsatz, bedienen 75 Schlaginstrumente, so Marimbaphone, Vibraphone, Röhrenglocken, Glockenspiele, Trommeln, Triangel und mehr, sogar Eisenbahnschienen; dass diese, außer den Pauken, nicht im Orchestergraben untergebracht werden können, leuchtet ein; so sind sie an drei Seiten der Bühne aufgebaut, und weitere Schlagzeug- und Tasteninstrumente wie Orgel oder Cembalo werden vom Probensaal aus eingespielt, was das Klang-Raum-Erlebnis verstärkt. Für die sechs Aufführungen werden fast 40 Kollegen aus anderen Häusern benötigt. Daneben aber erfordert diese Oper auch von den 20 Gesangssolisten Außerordentliches in ihren schwierigen Partien. Das kann nicht jedes Haus leisten; auch in Nürnberg sind in einigen Rollen profilierte Gäste beschäftigt.

POINTS OF HONOR

Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Dass Die Soldaten als „eines der Schlüsselwerke des Musiktheaters im 20. Jahrhundert“ in Nürnberg erfolgreich realisiert werden kann, liegt auch an der Inszenierung von Peter Konwitschny zusammen mit seinem Ausstatter Helmut Brade. Zimmermann hat für seine Oper als Vorlage die gleichnamige „Komödie“ des Sturm-und-Drang-Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz gewählt, den Text teilweise wörtlich übernommen. Dennoch ist das Werk keine Literatur-Oper. Denn Zimmermann betont, dass ihn am Schauspiel von Lenz die „alltägliche Geschichte“ der Marie gereizt hat und die „Einheit der inneren Handlung“, bei der „mehrere Handlungen übereinander geschichtet“ seien. „Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit werden austauschbar“, können sich so auch musikdramaturgisch mit dem „Gesichtspunkt des Pluralistischen“ in der „Kugelgestalt der Zeit“ verbinden. Das entspricht dem Bewusstseinsstrom.

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In dieser Oper wird über eine Situation berichtet, aber keine Geschichte erzählt, denn alles ist schon vorbestimmt, es gibt keine Entwicklung, und, wie der Komponist schreibt, „die Oper spielt gestern, heute, morgen“. Dem muss die Inszenierung Rechnung tragen.  Konwitschny zeigt sehr spannend, sehr plausibel, sogar mit zeitweilig tragikomischen Zügen die Katastrophe der Entmenschlichung einer Gesellschaft, die auf Rohheit, Egoismus und emotionaler Kälte beruht. So sind auch, entgegen dem Titel, keine Soldaten in Uniform auf der Bühne zu sehen. Für den Regisseur geht es gar nicht um Soldaten, sondern um Menschen, die in einem kapitalistischen System Gehorsam leisten, um Männer, die den Befehlen „von oben“ gehorchen, etwa in Banken und Unternehmen, um heutige Unterstützer des Macht-Systems, also um „Wirtschaftssoldaten“. Ausstatter Helmut Brade steckt sie in grau-silbrige, korrekte Anzüge. Auch die „Gesellschafterinnen“ der Gräfin, die sich in einem weißen Hosenanzug von der Masse abhebt, kommen gleich angezogen in konventionellen grauen Kostümen daher, sind also gleichgeschaltete Befehlsempfängerinnen. Marie soll sich ihnen anschließen, will sich das aber noch überlegen. Dadurch, dass sie das „Angebot“ nicht annimmt, führt sie ihren gesellschaftlichen Untergang herbei. In kurzen Szenen, in Stationen, wird aufgezeigt, wie sich das eigentlich schon vorbestimmte Schicksal erfüllt. Dazu schweben immer wieder von oben Kulissenteile als Hintergrund herab, mal grün für das Haus des Händlers Wesener, gelb für das Heim des Stolzius, spiegelnd für den Palast der Gräfin, rot für das Zimmer von Hauptmann Mary; durch stilisierte Bäume weitet sich die Bühne zum Stadtpark, durch eine graue Wand zum Kaffeehaus der aufreizenden Madame Roux, wo die „Soldaten“ trinken, wo eine groteske Klein-Truppe von Fähnrichen tanzt, eine Jazz-Combo spielt und eine „Andalusierin“ wie in einem Western als anrüchiges Girl mit Pistolen im Schenkel-Halfter die Betrunkenen zu ausufernder „Stimmung“ animiert, die schließlich im Chaos endet. Erst im vierten Akt ändert sich die Perspektive: Das Publikum auf der dunklen Bühne, abgeschirmt durch den Eisernen Vorhang, blickt nach dessen Hochziehen in den hell erleuchteten, leeren Zuschauerraum, wo in der Loge Stolzius als Diener des Hauptmanns Mary, kostümiert wie im Zirkus, dem Verführer Desportes und seinem Gastgeber die vergiftete Suppe serviert und auch selber dadurch stirbt. Die blonde, kindliche Marie, munter und unbefangen mit Pferdeschwänzen, liegt zu Beginn der Oper an einem Liebesbrief schreibend auf dem Boden, während ihre eher introvertierte Schwester Charlotte liest. Maries Verlobter Stolzius hat eine Mutter, die mit seiner Wahl nicht einverstanden ist und ihm den Kopf kühlen will. Währenddessen weckt Baron Desportes durch sein verführerisches Werben Gefühle in Marie und bei ihrem Vater trotz anfänglicher Vorsicht Hoffnungen auf eine bessere Partie. Die fußballkickenden Männer der Wirtschaft stufen Frauen als Huren ein; ihre Enthemmung setzt sich bei ihnen fort im Gelage, in einer Auseinandersetzung zwischen Hauptmann und Pastor und wegen der von allen begehrten Braut Marie in der Erniedrigung des „Zivilisten“ Stolzius, nach der schließlich alles zerschlagen wird. Während der Intermezzo-Musik zur nächsten Szene räumen Putzfrauen die Trümmer auf. Dann wird ein großes Bett hereingeschoben, auf dem sich Marie und Desportes vergnügen, und als Großmutter und die Mutter des Stolzius Marie als Soldatenhure verurteilen, reift in diesem der Plan zur Vernichtung des Verführers. Bei einem Streitgespräch zwischen dem Prediger und Hauptmann Pirzel bezeichnet letzterer Frauen als Schafe, und gleich danach wird in der Wohnung des Wesener an Marie, nun mit offenem Haar und im geblümten Kleid, beeindruckt durch Geschenke und Luxusprodukte, demonstriert, dass sie ein Soldatenmensch geworden ist. Sie folgt der Einladung von Hauptmann Mary zu einem Ausflug. Während der folgenden Zwischenmusik sieht man unter freiem Himmel auf der leeren Bühne zwei Kinder, ein Mädchen und einen Jungen, unschuldig spielen. Im Programmheft heißt es dazu: das Kindliche in uns berechtigt zu Hoffnungen. Das Spiegelkabinett der Gräfin mit weißen Möbeln führt die sinnlich-erotische Beziehung zu ihrem Sohn vor Augen, dadurch dass sie ihn an ihre Brust unter der geöffneten Bluse drückt. Sie möchte ihn von Marie abbringen, besucht sie zu Hause und will sie und ihre Schwester in ihre Dienste zwingen. Doch ob Marie sich der Anpassung fügt, bleibt fraglich. So steuert sie ihrem Untergang entgegen, indem sie sich am Schluss des vierten Aktes jedem für Geld anbietet. Damit weicht die Inszenierung von der ursprünglichen Vorlage ab, in der das nachhaltige Erschrecken über die Katastrophen in Hiroshima und Nagasaki durch die Atombombe hervorgerufen werden sollte; auch die vom Komponisten vorgesehenen Tonbänder mit Schreien und Militärkommandos sind nicht zu hören. Konwitschny hält das für einen gewaltsamen Anhang an die Handlung, Dirigent Bosch für einen Bruch in der Komposition. Der Regisseur betont, dass es eigentlich um den „inneren Tod“ des Menschen gehe, um eine fundamentale Katastrophe, auch musikalisch zu hören in der Stille beim durchklingenden d, was auf den Anfang zurückgreift.

Foto © Ludwig Olah

Dabei beginnt das Werk musikalisch geradezu gewalttätig, mit dumpfen, stumpfen Paukenschlägen im Preludio, die wellenartig auf- und abschwellen, ein lautes, in sich aber sehr wohl strukturiertes, wüstes Klang-Tableau, das sich schließlich scheinbar beruhigt, flirrend Zwitscherndes hören lässt und fast sehnsuchtsvoll abebbt. Markus Bosch am Pult der Staatsphilharmonie Nürnberg hält diesen riesigen Orchesterapparat souverän zusammen, lässt auch Differenziertes, Kammermusikalisches aufleuchten, und in den Zwischenmusiken sind unter der Oberfläche Zitate von Chorälen, von barocken Trompeten, Gregorianik als Trümmer-Collage vergangener Musik-Tradition zu ahnen. Dabei forciert Bosch nie, sondern gibt auch, wie im unkonventionellen „Gewitter“, vor der inneren Unruhe der Marie, Transparentem Raum. Die Übereinanderschichtung aller Stimmen und Motive im vierten Akt und die gesprochenen Texte durch alle Mitwirkenden von der umlaufenden Beleuchterbühne herunter heben das Drama auf eine weitere Ebene, schaffen eine irritierende Distanz, bereiten die Auflösung der Handlung, die Apokalypse vor.

Dass die Sängerinnen und Sänger hier besonders gefordert sind in ihren schwierigen Partien, die sich ab und zu ans Sprechen annähern, steht außer Frage. Besonders beeindruckt in der stimmlichen wie darstellerischen Durchdringung ihrer Rolle die dänische Sopranistin Susanne Elmark; sie verkörpert sowohl das kindlich Mädchenhafte wie auch weibliche Naivität, und ihre kraftvolle, runde, nie harte Stimme beherrscht locker die raschen Wechsel zwischen hohen Ausbrüchen und Tiefe. Ihren Vater gibt Tilmann Rönnebeck überzeugend mit starkem Bass, Solgerd Isalv gestaltet mit wohlklingendem Mezzosopran Maries Schwester Charlotte als skeptische Beobachterin. Helena Köhne passt mit ihrem Alt gut zur Großmutter der beiden. Ein weiteres großes Plus der Aufführung ist Jochen Kupfer als Stolzius mit seinem großen, starken Bariton und der tragischen Ausstrahlung des unglücklichen, betrogenen Verlobten der Marie; seine Mutter wird von Leila Pfister durchgängig misstrauisch gezeichnet. Als oberflächlicher Verführer der Frauen profiliert sich passend mit hellem, stets tragfähigem Tenor Uwe Stickert als Baron Desportes. Aus den Reihen der „Soldaten“ ragen auch stimmlich hervor Antonio Yang als nachdenklicher Feldprediger Eisenhardt, Alexey Birkus als etwas penetranter Obrist, Hans Kittelmann als leichtsinniger Hauptmann Pirzel, Ludwig Mittelhammer als angepasster Hauptmann Mary. Martin Platz eignet sich mit seiner jugendlichen Ausstrahlung und seinem beweglichen Tenor gut als Grafensohn de la Roche, während man Sharon Kempton als sehr bestimmender Gräfin manchmal etwas mehr Kraft in der Stimme wünschte. Auch die kleineren Rollen der „Soldaten“ und der Chor von Tarmo Vaask fügen sich in ein harmonisches sängerisches Gesamtbild.

So ist das Premierenpublikum im nicht ganz voll besetzten Haus zwar hingerissen und beeindruckt von den überragenden Leistungen aller Akteure, aber auch ein wenig deprimiert von der letztlich pessimistischen Aussage dieser Oper und spendet langen Beifall.

Renate Freyeisen