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Liebeserklärung an die Natur

EXPEDITIONSKONZERT
(Ludwig van Beethoven)

Gesehen am
17. Dezember 2020
(Livestream)

 

Staatstheater Nürnberg

Joana Mallwitz, die Generalmusikdirektorin des Staatstheaters Nürnberg, hat mit ihren bisherigen „Expeditionskonzerten“ am Staatstheater Nürnberg das Publikum begeistert und für Sinfonien neue Zuhörer gewonnen, zuletzt mit der 1. Symphonie von Johannes Brahms. Eine Fortsetzung dieser Reihe ist derzeit aufgrund der Corona-Pandemie nicht möglich. Wenn das Publikum schon nicht ins Konzert darf, dachte sich Mallwitz, dann komme ich digital mit meinen Musikern zum Publikum nach Hause: Mallwitz führt wie gewohnt moderierend, dirigierend und am Klavier begleitend durch das symphonische Meisterwerk und fügt Erheiterndes, Überraschendes, Unbekanntes und auch oft Gehörtes zu einem neuen Erlebnis und Höreindruck zusammen. Nach dem ersten digitalen Expeditionskonzert mit Beethovens Symphonie Nr. 7 A-Dur op. 92 ist das nun vorliegende Expeditionskonzert mit der Symphonie Nr. 6 F-Dur op. 68, die Pastorale, auch ein besonderer Gruß zu Beethovens 250. Geburtstag. Auch dieses Expeditionskonzert wurde auf Grund der Corona bedingten Schutzmaßnahmen für das neue Videoformat angepasst. So konnte das Konzert lediglich in kleinen Gruppen und in reduzierter Besetzung unter Einhaltung des Sicherheitsabstandes ohne Publikum aufgezeichnet werden.

Die Pastorale, Ludwig van Beethovens sechste Symphonie, ist eine Zeitenwende in der Musikgeschichte, nicht nur durch ihren komplexen Aufbau, sondern vor allem, weil Beethoven hier versucht, Stimmung in Musik zu fassen. Diese Symphonie darf man durchaus als Liebeserklärung an die Natur verstanden wissen. Beethoven war ein großer Naturliebhaber und verbrachte die Sommermonate gerne in der ländlichen Umgebung Wiens. Dass Beethoven dort lange Spaziergänge unternahm, ist bekannt und überliefert. Ob aber Ludwig van Beethoven seine Sechste wirklich am Ufer des Schreiberbach zwischen den Wiener Vororten Nußdorf und Grinzing komponierte, während er dort das bunte Treiben der Wachteln, Nachtigallen und Kuckucke beobachtete, ist wohl doch eher im Bereich der Legendenbildung anzusiedeln. Zwar vertonte Beethoven die Rufe dieser Vögel im zweiten Satz seiner Symphonie, dennoch mag das kein klarer Beweis für die Echtheit der Überlieferung sein.

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Obwohl Beethoven die inhaltliche Aufladung von Kompositionen im Sinne heutiger Programmmusik stets kritisierte, überschrieb er die ersten Skizzen der Pastorale mit Sinfonia caracteristica und später mit Sinfonia pastorella, das fertige Werk schließlich mit Pastoral-Sinfonie oder Erinnerungen an das Landleben. Ein Stadtbewohner fährt aufs Land und entdeckt dort die Natur als Idylle und Gewalt. Ruhe und Innerlichkeit finden ebenso Eingang in die Musik wie brutale Naturkräfte. Im Finale versöhnt Beethoven den Menschen mit der Natur und stellt eine Weltharmonie her. Entstanden ist die Pastorale 1807 bis 1808, nahezu zeitgleich mit seiner fünften Sinfonie.

Die Pastorale ist im Übrigen die einzige Symphonie Beethovens, die aus fünf statt vier Sätzen besteht.  In diesen fünf Sätzen werden von Beethoven verschiedene Eindrücke einer ländlichen Umgebung musikalisch dargestellt. Alle fünf Sätze fügen sich im Gesamtzusammenhang zu einem einheitlichen Bild, von dem Beethoven selbst behauptete, es habe „mehr Ausdruck der Empfindung als Mahlerey“. Den ersten Satz überschrieb er mit Erwachen heiterer Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande, der zweite Satz stellt eine Szene am Bach dar. Die direkt ineinander übergehenden Sätze drei, vier und fünf sind mit den Zusätzen Lustiges Zusammensein der Landleute, Gewitter und Sturm sowie Hirtengesang – Frohe und dankbare Gefühle nach dem Sturm beschrieben. Diese Naturverbundenheit, die fast zu einem musikalischen Idyll stilisiert ist, ist vor allem im zweiten Satz omnipräsent, wenn in der Coda des zweiten Satzes Vogellaute durch die Instrumente imitiert werden und man die Geräusche eines Wanderers und das Murmeln eines Bachs zu vernehmen meint. Durch den geschickten Einsatz von Kontrabässen, Celli, Piccoloflöte und Violinen im vierten Satz ist das aufziehende Gewitter förmlich spürbar.  Beethoven legte mit seiner Sechsten wohl eher unbewusst den Grundstein für eine neue musikalische Formsprache, die in der Programmmusik des 19. Jahrhunderts mündete und schließlich den Ausgangspunkt der Symphonischen Dichtung darstellte und auch Richard Strauss bei der Komposition seiner Alpensin­fonie inspiriert haben mag.

Mit jeweils einzelnen Orchestergruppen oder Instrumenten und selbst am Flügel erläutert Joana Mallwitz die einzelnen Sätze. Dabei sprüht sie wieder vor Energie, und sie nutzt eine allgemeinverständliche Sprache, die auch der musikalische Laie verstehen kann und dadurch ganz neue Dinge über Komposition, über Tonarten und den Zusammenhang von Motiven erfährt. So lernen wir, dass die Symphonie sich aus einem kleinen Motiv entwickelt hat, quasi wie aus einem Samenkorn ein großes musikalisches Gewächs entstanden ist.  Für Mallwitz ist die Musik der Symphonie die Übermittlerin von Gefühlen und Empfindungen, die von jedermann verstanden werden. Auch die Pastoralmusik sei nichts neues gewesen, sondern habe sich aus der Barockmusik entwickelt. Haydns Schöpfung und die Jahreszeiten stehen exemplarisch dafür. Aber auch in den Flötenkonzerten von Vivaldi sind imitierte Vogelstimmen zu vernehmen.

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Ein weiteres Merkmal dieser Symphonie sind nicht nur die fünf Sätze, sondern auch, dass der Schlusssatz nicht wie gewohnt in einem triumphalen Finale endet, sondern in „heiterer Ruhe“ still verklingt.

Der erste Satz beginnt mit einem viertaktigen Motiv, aus dem sich die folgende Thematik entwickelt. Besonders beeindruckend ist der Beginn des zweiten Satzes, der sich über einen einzelnen Ton (b) entwickelt, den zunächst alle Stimmen aufnehmen, dann aber in verschiedene Schichten zerfällt. Ein besonderes Augenmerk richtet Mallwitz auf die Imitation der Vogelstimmen im zweiten Satz. Nachtigall, Wachtel und Kuckuck sind jeweils ein Soloinstrument zugeordnet: Flöte, Oboe und Klarinette. Passend zu den Solostimmen wird dem jeweiligen Musiker digital ein gezeichneter Vogel auf die Schulter gesetzt, eine nette und einprägsame Idee. Der Kuckucksruf, der bei Beethoven über eine große Terz verfügt, hat sich aus der kleinen Terz in der Barockmusik entwickelt. Die große Terz des Kuckucks ist dann viel später auch in Engelbert Humperdincks Oper Hänsel und Gretel zu hören, und in Gustav Mahlers 1. Symphonie in D-Dur wird daraus sogar eine Quarte. Joana Mallwitz beschreibt diese Vergleiche sehr anschaulich und lässt sie an den einzelnen Instrumenten so nachspielen, dass die Assoziationen präsent bleiben. So hebt sie im dritten Satz einmal das Fagott hervor, das zunächst nur zwei Töne spielt:  f-c-f. Und auch dieses Motiv entwickelt sich zu einer großen Melodie, die in einen wilden Tanz mündet. Das Donnergrollen und die Blitze des Gewittersturmes im vierten Satz werden eindrucksvoll durch die einzelnen Orchestergruppen herausgearbeitet, das Thema endet dann in einem musikalischen Regenbogen. Und auch der Hirtengesang im Schlusssatz wird dargestellt, der in die heitere Ruhe des Finales mündet, zu dessen Klängen sie die Bühne verlässt.

Bedauerlich, dass auch nach diesem zweiten digitalen Expeditionskonzert und der geweckten Neugier auf die ganze Symphonie leider keine Einspielung des Gesamtwerkes gezeigt werden kann, wie das bei den „Live-Expeditionskonzerten“ bisher der Fall war. Wer sich diese etwas andere Symphonie von Beethoven im Ganzen anschauen möchte, findet bei YouTube eine Menge Aufnahmen. Zu empfehlen sind dabei drei Live-Mitschnitte, die durch ihre unterschiedlichen Interpretationen der Dirigenten, des Klanges der Orchester und der unterschiedlichen Tempi sehr interessant anzusehen und anzuhören sind. Es sind die Wiener Philharmoniker unter Christian Thielemann, das hr-Sinfonieorchester unter Andrés Orozco-Estrada und das Boston Symphonie Orchestra unter Leonard Bernstein.

Andreas H. Hölscher