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ONLINE-EXPEDITIONSKONZERT – DER BETRUNKENE BEETHOVEN
(Ludwig van Beethoven)
Gesehen am
30. April 2020
(Livestream)
Joana Mallwitz, die Generalmusikdirektorin des Staatstheaters Nürnberg, hat mit ihren bisherigen „Expeditionskonzerten“ am Staatstheater Nürnberg das Publikum begeistert und für Sinfonien neue Zuhörer gewonnen, zuletzt mit der 1. Symphonie von Johannes Brahms. Eine Fortsetzung dieser Reihe ist derzeit aufgrund der Corona-Pandemie nicht möglich. Wenn das Publikum schon nicht ins Konzert darf, dachte sich Mallwitz, dann komme ich digital mit meinen Musikern zum Publikum nach Hause: Mallwitz führt wie gewohnt moderierend, dirigierend und am Klavier begleitend durch das symphonische Meisterwerk und fügt Erheiterndes, Überraschendes, Unbekanntes und auch oft Gehörtes zu einem neuen Erlebnis und Höreindruck zusammen. Und doch ist natürlich vieles ganz anders. Das Expeditionskonzert wurde auf Grund der Corona-bedingten Schutzmaßnahmen für das neue Videoformat angepasst. So konnte das Konzert lediglich in kleinen Gruppen und in reduzierter Besetzung unter Einhaltung des Sicherheitsabstandes aufgezeichnet werden, natürlich ohne Publikum.
War Beethoven betrunken, als er seine 7. Symphonie komponierte? Das fragte sich wohl mancher Zeitgenosse angesichts der wilden Klangkaskaden in diesem Werk. In der Tat war Beethoven als Privatmensch ein regelrechter Chaot, der auch schon mal bei einem nächtlichen Spaziergang in Wien wegen „Landstreicherei“ von der Polizei verhaftet wurde, weil er wie ein „Lump“ gekleidet war. In den 35 Jahren, die er in Wien lebte, ist er wohl 69mal umgezogen. All das weiß Joana Mallwitz zu Beginn ihres digitalen Expeditionskonzertes zu berichten. Dann liest sie genussvoll aus einem Buch über Beethoven vor: „Seine Wohnung ist ganz merkwürdig. Drei Flügel, alle ohne Beine, auf dem Boden liegend. Koffer, worin seine Sachen sind. Ein Stuhl mit drei Beinen, die Nachtkleider liegen auf dem Boden. Dort das Restchen eines kalten Imbisses, hier halbgeleerte Flaschen. Auf dem Stehpult die flüchtige Skizze eines neuen Werkes. Hier die Reste eines Dejeuners, dort auf dem Piano auf bekritzelten Blättern das Material zu einer Sinfonie, und zwischen den Fenstern erkleckliche Trümmer einer echten Veroneser Salami!“ Ja, im echten Leben war Beethoven ein Chaot, als Komponist jedoch sehr gut organisiert und bei der Komposition dieser Symphonie sicher nicht betrunken. Gustav Mahler berichtete von einer Aufführung, nach der allerdings die Zuschauer wie betrunken aus dem Konzertsaal kamen.
Joana Mallwitz – Bildschirmfoto
Seine Siebte schrieb Ludwig van Beethoven vor allem 1811, vollendete sie schließlich im Frühjahr 1812. Die Uraufführung erfolgte am 8. Dezember 1813 in Wien, dem Jahr der Völkerschlacht von Leipzig und dem Geburtsjahr von Richard Wagner. Während die ersten sechs Symphonien kontinuierlich Jahr für Jahr entstanden, komponierte Beethoven die Siebte nach einer Pause von fünf Jahren, besser gesagt nach einer Zäsur, die er vor allem für die Komposition von Klavier- und Kammermusik nutzte. Und genau diese biographisch-künstlerische Zäsur ist gleichzeitig ein Fingerzeig auf das Werk. Sie verweist darauf, dass die Symphonie Nr. 7 anders ist als ihre Vorgängerinnen. In den Symphonien Nr. 3, 5 und 6 hatte er ein Sujet oder zumindest eine Grundidee gewählt, und nun kam mit der Siebten etwas völlig Neues: Mit dieser A-Dur-Sinfonie schuf Beethoven einen neuen Typ sinfonischer Komposition, etwas ganz Besonderes. Im Unterschied zu all ihren Vorgängerinnen liegt ihre Besonderheit darin, wie Beethoven hier rhythmisch und harmonisch gestaltet. Als faszinierendes Dokument für diesen Schaffensprozess daran sind 100 Seiten Skizzen zu diesem Werk erhalten. Und von einigen dieser Skizzen ausgehend, entwickelt Mallwitz am Klavier das spätere Thema des ersten Satzes. Getreu seinem Vorsatz „immer das Ganze vor Augen“ zu haben, notierte und entwickelte Beethoven von Beginn an seine Ideen für alle vier Sätze, die jeweils „ihre eigene rhythmische Gestalt“ besitzen. Beständig formte er sie um, entwickelte seine Einfälle weiter – eine Methode, die sich auch im fertigen Werk hören lässt. Rhythmisch gestaltet Beethoven seine Sinfonie nach einer Grundstruktur, die dem Ganzen eine geschlossene Wirkung und nicht zuletzt auch ihren Schwung verleiht. Beethoven selbst sagte über diese Symphonie Nr. 7 in A-Dur, sie sei eines seiner besten Werke. Wie stark gerade die A-Dur-Sinfonie auch schon in die Zukunft weist, zeigt ein kurzer Blick auf die Tonarten, auf Beethovens Umgang mit der Harmonik dieses Werkes. A-Dur als Grundtonart zöge nach den Regeln der Harmonik nicht unbedingt nach sich, dass weite Teile des Werkes in F-Dur stehen. Diese fremde Tonart F-Dur aber verleiht der Musik etwas Changierendes, einen klanglichen Reichtum, der prophetisch in die Romantik weist. Und Mallwitz erläutert, dass diese beiden Tonarten „verschwägert“ seien.
Mit jeweils einzelnen Orchestergruppen oder Instrumenten und sie selbst am Flügel erläutert Mallwitz die einzelnen Sätze. Dabei sprüht Sie wieder vor Energie, und sie nutzt eine allgemeinverständliche Sprache, die auch der Nichtexperte verstehen kann und dadurch ganz neue Dinge über Komposition, über Tonarten, über Harmonik und Rhythmen erfährt. So lernen wir, dass Beethoven in dieser 7. Symphonie das erste Mal ein „fff“ eingeführt hat, also ein dreifaches Forte, was vor allem den Klang der Bläser laut und dominant hervorhebt. Der Rhythmus des ersten Satzes veranlasste Richard Wagner, die Symphonie als eine Apotheose des Tanzes zu bezeichnen. Wie der erste, so wird auch der zweite Satz vor allem vom Rhythmus bestimmt, doch er erscheint rätselhaft, geheimnisvoll. Das Thema, so Mallwitz, „erinnere an eine feierliche Prozession oder einen stilisierten Trauermarsch, schwermütig, wehmütig.“ So wäre es, wenn Beethoven diesen Satz als „Adagio“, also ruhevoll, langsam bezeichnet hätte. Doch es ist die Bezeichnung „Allegretto“, nämlich mäßig schnell, mäßig lebhaft. Und Mallwitz lässt mit einer kleinen Orchestergruppe den Unterschied zwischen „Adagio“ und „Allegretto“ erklingen. Dann erzählt sie passend zu diesem Satz, der bei der Uraufführung sogar wiederholt werden musste, eine schöne Anekdote aus dem Hause Wagner. Als Franz Liszt mal wieder zu Besuch im Hause Wahnfried war, setzte er sich ans Klavier und spielte diesen zweiten Satz. Siegfried Wagner erinnerte sich daran, wie sein alter Vater Richard dann unbemerkt den Raum betrat, um ganz anmutig und geschickt zu der Melodie zu tanzen.
Für Mallwitz ist dieser zweite Satz wie eine andere Welt, die man betritt. Dazu erzählt sie die Geschichte des Dirigenten Felix Weingartner, der zum ersten Akkord dieses Satzes gesagt haben soll, es „sei wie der Blick in einen Zauberspiegel. Und in diesem Zauberspiegel sieht man wie in einem Schattenreich in der Ferne Gestalten vorbeiziehen, die näher kommen und wieder verschwinden.“ Der ganze zweite Satz sei „eingefangen zwischen zwei Bläserakkorden, mit denen der Satz beginnt und endet, und der Blick in den Raum sich schließt.“ Dieser Satz habe auch einen großen Einfluss auf Franz Schubert gehabt, vor allem auf seine Liedkompositionen, die häufig das Thema Tod zum Inhalt haben. Mallwitz zitiert dabei am Flügel aus Schuberts Liedern Der Tod und das Mädchen und Der Wanderer.
Der dritte Satz in F-Dur beginnt mit dem abgewandelten Thema der Einleitung und bildet mit seinem lebhaften Charakter einen Kontrast zum Allegretto. Das Trio steht dagegen in A-Dur, dreimal erfolgt der Wechsel. Der Satz endet abrupt mit einem einzigen Paukenschlag, was von Robert Schumann mit den Worten „Man sieht den Komponisten ordentlich die Feder wegwerfen“ beschrieben wurde.
Der Schlusssatz wird von Mallwitz als extrovertiert beschrieben, es sei „Energie pur, ein selbsthypnotischer Taumel.“ Die Pauken geben den Rhythmus vor und peitschen das Orchester auf. Insgesamt sei dieser vierte Satz „Urgewalt, obsessiv.“ Clara Schumanns Vater Friedrich Wieck mutmaßte, „daß diese Sinfonie nur im unglücklichen – im trunkenen Zustand komponiert sein könne, namlich der erste und der letzte Satz“. Und Carl Maria von Weber soll gesagt haben „Beethoven sei reif für das Narrenhaus.“
Mallwitz selbst stellt die Frage in den Raum, ob diese Symphonie eine konkrete Geschichte habe. Es würden immer „Tanz und Freude assoziiert, doch es gebe keine programmatische Deutung“. Wenn man jedoch in die Entstehungszeit zurückschaut, wurde diese 7. Symphonie anderthalb Monate nach der Völkerschlacht bei Leipzig am 8. Dezember 1813 zusammen mit Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria im großen Redouten-Saal der Wiener Universität als Benefizkonzert zugunsten der antinapoleonischen Kämpfer unter Beethovens Dirigat uraufgeführt. In Beethovens Dankadresse an die Mitwirkenden werden die Motive offen ausgesprochen: „Uns alle erfüllt nichts als das reine Gefühl der Vaterlandsliebe und des freudigen Opfers unserer Kräfte für diejenigen, die uns so viel geopfert haben.“ Als Beethoven mit der Komposition der 7. Symphonie begann, plante Napoleon seinen Feldzug gegen Russland. Nach der 3. Symphonie, der Eroica, möglicherweise auch der 5. Symphonie, scheint die 7. Symphonie eine weitere musikalische Auseinandersetzung Beethovens mit Napoleon und dessen Politik zu sein, dieses Mal im Kontext der europäischen Befreiungskriege von der jahrelangen napoleonischen Vorherrschaft.
Zum Schluss des Expeditionskonzertes erzählt Mallwitz, dass Beethoven sich auch viel mit schottischen und irischen Volksliedern beschäftigt habe. So habe er für das irische Volkslied Save me from the grace and wise ein Zwischenspiel geschrieben, das eine enorme Ähnlichkeit zum Hauptthema des vierten Satzes aufweist. Mit dem Hinweis auf die große Orchesterbesatzung, die per Video eingeblendet wird, und den finalen Klängen verlässt sie die Bühne.
Dieses erste „digitale Expeditionskonzert“ war nicht die Inszenierung einer heilen Konzertwelt, sondern eine Dokumentation all dessen, was uns allen momentan fehlt: ein feierlich gestimmtes Publikum, ein prall mit Klängen gefüllter Orchestergraben, die ganze Aura eines mit Leben und Lachen gefüllten Theaters. Und es führt uns vor Augen, dass gerade in schwierigen Zeiten die Kultur sehr wohl „systemrelevant“ ist und mit kreativen Ideen ihren gesellschaftlichen Auftrag leisten kann. Für die Musikliebhaber ist es ein kleiner Trost für ausgefallene Konzerte und gleichzeitig ein Blick auf die Chancen und Möglichkeiten eines multimedialen und multidimensionalen Musiklebens der Zukunft, das auch einen neuen Zugang zur klassischen Musik wecken kann, denn dieses Expeditionskonzert in seiner speziellen Form ist auch eine Liebeserklärung an Beethoven und seine 7. Symphonie. Es bleibt zu hoffen, dass, auch unabhängig von hoffentlich bald wieder vollen Konzertsälen, dieses Experiment weitergeführt wird. Mit einer so sympathischen Botschafterin wie Joana Mallwitz wäre das ein großer Gewinn.
Schade nur, dass nach dem Expeditionskonzert und der geweckten Neugier auf die ganze Symphonie leider keine Einspielung des Gesamtwerkes gezeigt werden kann, wie das bei den „Live-Expeditionskonzerten“ bisher der Fall war. Wer sich diese wunderbare Symphonie im Ganzen anschauen möchte, findet bei YouTube eine Menge Aufnahmen. Zu empfehlen sind dabei drei Live-Mitschnitte, die durch ihre unterschiedlichen Interpretationen der Dirigenten, des Klanges der Orchester und der unterschiedlichen Tempi sehr interessant anzusehen und anzuhören sind. Es sind einmal die Wiener Philharmoniker unter Christian Thielemann, das Royal Concertgebouw Orchestra unter Iván Fischer und das hr-sinfonieorchester unter Andrés Orozco-Estrada.
Andreas H. Hölscher