O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Aktuelle Aufführungen

Engel über Istanbul

ZWISCHEN EUROPA UND KAUKASUS
(Diverse Komponisten)

Besuch am
21. November 2021
(Zweites Konzert am selben Tag)

 

Deutsche Kammerakademie Neuss am Rhein, Stadthalle Neuss

Es ist der scheinbar unauflösbare Konflikt jeden Veranstalters klassischer Musikkonzerte. Eigentlich, so die einhellige Resonanz, möchten Veranstalter ihren Besuchern Neues, Ungewöhnliches, womöglich nie Gehörtes bieten. Das geht. Wenn sie in Kauf nehmen, vor einem nahezu leeren Konzertsaal zu stehen. Wer auf den Kartenverkauf und damit auf volle Säle angewiesen ist, wird schnell das „Übliche“ auf den Programmzettel setzen. Eigentlich war es ja der Grundgedanke der öffentlichen Finanzierung von Konzerthäusern, Musik dieser Tage zu ermöglichen. Bis zum Ausbruch der Pandemie war dieser Gedanke längst pervertiert. Die Konzerthäuser brüsteten sich damit, bis zu 30 Prozent der Konzerte durch „Eigeneinnahmen“, also Kartenverkäufe, zu finanzieren. Viele Gemeinden rechneten die Kartenverkäufe als feste Einnahmequelle. Damit wurde den ewigen Säulenheiligen Vorschub geleistet. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten tragen ihren Teil dazu bei, dass mehr als 400 Jahre alte Musik eher in die Köpfe der Rezipienten eingeht als die Musik gegenwärtiger Komponisten. Auch die Pandemie wird hier nicht zu einem Umdenken beitragen, wenn das System nicht korrigiert wird. Immerhin aber gibt es jetzt Förderprogramme, die andere Musikprogramme ermöglichen. Die Deutsche Kammerakademie Neuss am Rhein nutzt die Gelegenheit, mit ihrem zweiten Abonnementkonzert ihren Besuchern ein Programm mit Musik anzubieten, deren Komponisten alle noch leben.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Es geht nicht darum, Mozart, Beethoven, Mahler, Schumann, Händel, Bruckner oder Brahms zu verteufeln. Obwohl ein bisschen weniger Bach für alle, außer denen, die schon wieder ein Album mit der alten Musik veröffentlichen, Erleichterung böte. Aber ein Gleichgewicht zu schaffen, wäre schon ein echter Fortschritt. Die Deutsche Kammerakademie Neuss am Rhein ist diesen Schritt jetzt einfach mal gegangen. Ein Abonnementkonzert, das nicht nur ein Zwölf-Minuten-Stück eines modernen Komponisten als Alibi-Funktion zwischen Mozart und Hummel versteckt, sondern Namen auflistet von Menschen, die alle noch leben. Pēteris Vasks, Tigran Mansurian und Fazil Say stehen auf der Liste des zweifach aufgeführten Konzerts. Und es ist wirklich zu hoffen, dass das Konzert am Nachmittag überlaufen war und am Abend nur noch die Nachzügler Platz finden.

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Die Ankunft ist gruselig. Die Stadthalle Neuss liegt im Halbdunkel oder sollte man sagen: halbvergessen da. Parkplätze gibt es ohne Ende. Hier lädt nichts ein näherzukommen. Wer sich trotzdem traut, trifft auf das Fähnlein der Unentwegten. Viele Plätze bleiben im Saal der Stadthalle leer. Nach einer kurzen wie üblichen Ansprache von Martin Jakubeit, dem Orchestermanager, tritt Isabelle van Keulen auf und kündigt die ersten beiden Stücke des Abends an, die sie gern als Einheit sehen möchte. Dabei wäre eine deutlichere Trennung der beiden Stücke vielleicht gar nicht falsch gewesen. Wer nicht versteht, warum die musikalische Leiterin des Abends mit einem der absoluten Höhepunkte beginnt, sei getröstet. Es liegt daran, dass es an diesem Abend nur Höhepunkte geben wird. Der einsame Engel – im lettländischen Original Vientuljais eņģelis – von Pēteris Vasks erklingt im 19-köpfigen Streichorchester im ätherischen Nichtsein. Untermalt von sorgsamen Variationen der Solo-Geige von van Keulen. „Ein Engel schwebt über der Welt und betrachtet den Zustand der geschundenen Erde mit Tränen in den Augen. Aber eine beinahe unmerkliche, liebevolle Berührung mit seinen Flügeln bringt Trost und Heilung. Dieses Stück ist eine Antwort auf den Schmerz“, sagt Vasks über sein Werk. Und selten hat ein Komponist sein Schaffen so auf den Punkt gebracht, wie er es in Noten ausdrücken konnte. Der Deutschen Kammerakademie Neuss gelingt eine umwerfende Interpretation.

Vollkommen entrückt darf man sich in die Romanze für Violine und Streicher von Tigran Mansurian gleiten lassen. Ursprünglich für Patricia Kopatchinskaya komponiert, wurde die Romanze am 11. Oktober 2012 in Amsterdam uraufgeführt. Van Keulen zeigt an diesem Abend, dass sie in nichts der marketing-gehypten Kopatchinskaya nachsteht. Solchermaßen eingestimmt und begeistert, hätte man an dieser Stelle eine Pause erwartet, um die großen Eindrücke einzuatmen und zu verinnerlichen. Aber Pausen sind in diesen Zeiten nicht mehr gern gesehen, weil organisatorisch schwierig durchzuführen. Isabelle van Keulen schafft dann doch so etwas wie einen Bruch, indem sie die Kammersinfonie für Streichorchester von Fazil Say mit Beispielen musikalischer Besonderheiten ankündigt. Say lebt sich nicht nur am Klavier aus, sondern folgt den alten Traditionen von Komponisten, die er an der Robert-Schumann-Hochschule Düsseldorf erlernt hat. Er greift folkloristisches Material seines Heimatlandes Türkei auf und übersetzt es in die Moderne. Die Deutsche Kammerakademie interpretiert seine Kammersinfonie als einen Besuch in Istanbul. Say gelingt es ohne Schwierigkeiten, mit seiner Tonsprache die Fantasie der Besucher in die türkische Stadt zu entführen. Da sieht man sich in engen Gassen, am Ufer des Bosporus und in den Beziehungen der Bürger. Das dreisätzige Werk zieht die Besucher in der Neusser Stadthalle noch einmal vollkommen in seinen Bann.

Stürmischer Applaus ist das Mindeste für diesen Abend, und das Publikum hält sich nicht zurück. Heute hat die Deutsche Kammerakademie den Beweis erbracht, dass lebende Komponisten unbedingt auf den Bühnen stattfinden müssen. Je öfter, desto besser.

Michael S. Zerban