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WEIHNACHTSKONZERT
(Wolfgang Amadeus Mozart, Pēteris Vasks)
Besuch am
10. Dezember 2023
(Einmalige Aufführung)
Gibt es eigentlich eine behördliche Anordnung, nach der Konzerte in der Adventszeit Weihnachtskonzert zu heißen haben? Bei der Sprachwillkür, die Ämter ohne jede Rechtsgrundlage an den Tag legen, sollte das nicht überraschen. Da ist es doch eine schöne Überraschung, wenn sich in diesen Tagen ein so bezeichnetes Konzert als so gar nicht weihnachtlich entpuppt. Die Deutsche Kammerakademie Neuss lädt am Sonntagabend zu einem Konzert mit diesem Titel in das Zeughaus ein, den Konzertsaal der Stadt Neuss. Den Bürgern darf unterstellt werden, dass sie sich im Vorfeld über das Programm informiert haben, so dass sie nun das Zeughaus bis auf den letzten Platz besetzen.
Drei Werke sind für den Abend unter der musikalischen Leitung von Isabelle van Keulen für zwei Stunden inklusive Pause geplant. Den Anfang macht eine der rund 60 Sinfonien Wolfgang Amadeus Mozarts. Mit 18 Jahren schrieb der Komponist die Sinfonie A-Dur KV 201. 1774 vollendete er seine 29. Sinfonie in Salzburg. Die Besonderheit des Werks liegt, wie im Programmheft als Zitat des Musikwissenschaftlers Wolf Konold ausgeführt wird, in der „Emanzipation der Einzelstimme“ und der „filigranen Stimmführungskunst“. Beides arbeiten die Streicher der Kammerakademie wunderbar heraus.
Sindy Mohamed – Foto © O-Ton
Der eigentliche Höhepunkt des Abends ist wohl trotz des Mozart-Rahmens das Konzert für Viola und Streichorchester von Pēteris Vasks. Der Komponist wurde 1946 in der lettischen Kleinstadt Aizpute als Sohn eines Baptisten-Pfarrers geboren. Im elterlichen Haushalt gab es weder Fernseher noch Plattenspieler. Aber daheim und in der Kirche wurde musiziert. Seine musikalische Laufbahn begann an der Geige. Nach dem Besuch der Musikschule in Riga wechselte er zur Litauischen Musikakademie in Vilnius, um dort Kontrabass zu studieren. Nach dem Studium spielte Vasks in verschiedenen Orchestern seiner Heimat. 1973 begann er ein fünfjähriges Studium der Komposition und begründete damit seinen weiteren Werdegang. Der sollte ihn zum „Nationalkomponisten“ Lettlands werden lassen. Seine Mischung moderner, traditioneller und auch folkloristischer Techniken begründete seinen Ruhm. 69-jährig veröffentlichte er 2015 sein Streichorchester, das heute Abend auf dem Programm steht.
Als Bratschistin hat die Kammerakademie Sindy Mohamed eingeladen. Ein wahrer Glücksgriff. 1992 in Marseille mit ägyptischen Wurzeln geboren, ließ sie ihren Traumberuf wahr werden. Sie studierte in ihrer Heimatstadt, in Paris und in Berlin. Seither gilt sie als eine der vielversprechendsten Musiker ihrer Generation. Seit 2013 ist Mohamed Mitglied des West-Eastern Divan Orchestra. In dieser Spielzeit absolviert sie eine Tournee mit der Kammerakademie. Nun also setzt sie ihre Bratsche ein, um das Publikum für Vasks‘ Werk zu begeistern. Und es gelingt ihr fast ohne Schwierigkeiten – nachdem sie die Technik im Griff hat. Denn aus irgendeinem Grund will ihr Fußschalter nicht so recht funktionieren, was sie erst mal mit gelassenem Lächeln zur Kenntnis nimmt. Irgendwie lässt sich die Schwierigkeit lösen, ohne dass irgendjemand genau wüsste, warum, aber es ist ein entspannter Einstieg. Schon zu diesem Zeitpunkt fliegen ihr die Herzen des Publikums zu. Anschließend folgt die Bewunderung für die kunstvollen Wechsel zwischen Zupfen, dissonantem und melodiösem Spiel. Das ist offenbar nur mit einem Höchstmaß an Konzentration zu bewerkstelligen, die Mohamed gerne aufbringt. Wenn van Keulen eingangs vom fast schon meditativen Charakter des Konzerts spricht, mag man diesen Eindruck nicht so recht teilen, geht es doch in den vier Sätzen ausgesprochen abwechslungsreich bis spannungsgeladen zu. Nach einer halben Stunde ist das Publikum wie elektrisiert. Was will man mehr? Die Freude ist nicht nur im Saal groß.
Isabelle van Keulen – Foto © O-Ton
Nach der Pause geht es zurück in die Vergangenheit. 21-jährig komponierte Mozart die Sinfonia concertante für Violine, Viola und Orchester in Es-Dur KV 364. Auch diese drei Sätze werden von der Kammerakademie brillant vorgetragen. Da gibt es nichts zu meckern. Zumal Mohamed sich jetzt auch von ihrer entspannten Seite und mit viel Freude an der Aufführung zeigt. Aber bei aller Begeisterung für Mozart: Aufregender war das Konzert von Vasks schon. Zweifelsohne hätte der Meister aus Salzburg in der direkten Begegnung mit dem lettischen Komponisten kontern können, so kann Vasks den Vorteil des Nachgeborenen für sich verbuchen. Das Ganze erinnert so ein bisschen an den Besuch bei einem Weinhändler, der seinen Gästen zwei Perlweine zur Verkostung anbot. Er war siegesgewiss. Da gab es einen Champagner und einen Schaumwein eines Lebensmitteldiscounters. Letzterer gewann, obwohl nach Etikett sicher eher der Franzose bei den Gästen das Rennen gemacht hätte. Aber wenn man beim Wettbewerbsgedanken bleibt, hat an diesem Abend sowieso ein ganz anderer zuerst das Ziel erreicht.
Der Applaus für die Kammerakademie, Isabelle van Keulen und Sindy Mohamed hält lange an und brandet jedes Mal erneut auf, wenn Mohamed wieder auf die Bühne kommt. Eine Zugabe steht nicht zur Debatte, aber das ist dem Publikum dann sowieso ganz recht. Zwei Stunden Konzert sind auch bei einer Pause heutzutage eine lange Zeit. In der allgemeinen Aufbruchstimmung wird eines aber immer wieder laut: Man darf dem Publikum mehr „moderne Musik“ zutrauen.
Michael S. Zerban