O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Marco Piecuch

Aktuelle Aufführungen

Zwischen zwei Welten

VOR SONNENAUFGANG
(Ewald Palmetshofer)

Besuch am
15. Januar 2022
(Premiere am 8. Januar 2022)

 

Rheinisches Landestheater Neuss, Großer Saal

Gerhart Hauptmanns Stücke wie Die Weber, Der Biberpelz und Die Ratten finden bis heute ihren Weg auf die Bühnen. Vor Sonnenaufgang gehört nicht mehr zwingend dazu. 1889 in Berlin uraufgeführt, führte der Fünfakter zu einem Skandal, wurde aber für Hauptmann das Werk, das zu seinem Durchbruch führte. Vielleicht, weil hier zu sehr die Moral trieft. Der Kapitalismus führt in den Alkoholismus, der ganze Familien degeneriert. Also Finger weg vom Alkohol. Ein Themenkomplex, der Ende des 19. Jahrhunderts durchaus en vogue war, heute aber sicher ein wenig altbacken klingt. Ewald Palmetshofer versuchte sich 2017 an einer Überschreibung des Stücks. Er reduzierte das Personal, das außer einer groben Rahmenhandlung nicht mehr viel mit dem Original zu tun hat, und veränderte die Örtlichkeit. Charaktere und Dialoge sind bis zur Unkenntlichkeit geändert. Und wenn Hoffmann über Internet, E-Mail und Facebook redet, klingt das eher so, als versuche er sich an einer fremden Sprache, statt zu wissen, worüber er da spricht. Der Schlüsseldialog zwischen Loth und Hoffmann ist längst von den aktuellen Entwicklungen überholt, enthält aber durchaus etliche Aha-Sätze. Vor allem, wenn Hoffmann die Moralwächter der „Roten“ anprangert, trifft er den Nerv der Zeit.

Die Theater haben derzeit ein massives Problem. Sie finden keinen Fuß mehr im „gesellschaftlichen Diskurs“. Diejenigen, die glauben, ihr Publikum mit ideologischen Stücken belehren zu müssen, finden immerhin noch eine kleine Blase. Die anderen, die versuchen, die gesellschaftliche Wirklichkeit zu erklären, treffen auf vollkommen überfrachtete Menschen, die längst verstanden haben, dass die Gesellschaft gespalten wird, auch wenn vielleicht verschiedene Ansichten darüber bestehen, wer was wie gerade zerteilt. Dazu kommt eine Übermüdung angesichts ständiger Paniknachrichten über eine Virusinfektion, die mit der erlebten Wirklichkeit nichts mehr zu tun haben und nur noch Angst oder mindestens Unsicherheit erzeugen. Das Publikum weiß sich nicht anders zu helfen, als zu Hause zu bleiben. „Zwischen zwei alten Freunden entbrennt ein politischer Streit, der exemplarisch die gegenseitige Entfremdung und Radikalisierung unserer Gesellschaft zeigt“ beschreibt das Rheinische Landestheater Neuss die neue Inszenierung des Stückes Vor Sonnenaufgang von Tom Gerber – und hat damit alles unternommen, einen Großteil des Publikums vom Theater fernzuhalten. Die Bürger wollen sich in Kriegszeiten – Synonym für „Radikalisierung unserer Gesellschaft“ – nicht mit dem Krieg auseinandersetzen, sondern unterhalten, abgelenkt werden.

In diese Zwickmühle gerät Gerber mit einer eigentlich überzeugenden Inszenierung. Der Regisseur zeichnet auch für Ausstattung und Bühnenbild verantwortlich. Er verlegt die Handlung in den Wintergarten des Hauses eines Neureichen mit Sichtbetonfassade, an den sich die Planen anschließen, die auf einen Erweiterungsbau hindeuten. Hier ist alles denkbar ungemütlich. Der Treffpunkt der Protagonisten bietet keinen Rückzugspunkt, sondern einen Ort der Konfrontation. Die Akteure treten in den verrücktesten Kostümen bis hin zu Barock-Perücken und feudaler Kleidung auf. Gerber spielt hier nicht nur mit verschiedenen Zeit-, sondern vor allem mit Status-Ebenen. Das ist ausgesprochen geschickt gelöst. Obwohl die Handlung überwiegend nachts spielt, findet David Kreuzberg zahlreiche Spielarten im Licht, um die „nächtlichen“ Auftritte interessant zu gestalten. Dass Gerber sich mit ein paar Einspielern von Rammstein und Apocalyptica lautstark Gehör verschafft, sei gestattet, um umfangreiche Dialoge ein wenig abzufedern.

Mit dem Ensemble hat der Regisseur allerdings auch leichtes Spiel. Benjamin Schardt gibt als Thomas Hoffmann nicht nur einen ausgezeichneten Gegenspieler zu Alfred Loth, sondern weiß auch gut mit der Rolle des von der Schwangerschaft gebeutelten Ehemanns umzugehen. Ulrich Rechenbach hätte vermutlich gern mehr Profil gezeigt, darf aber den Loth eher zurückhaltend darstellen. Eine der Schlüsselszenen in Hauptmanns Stück – die Nacht mit Helene – wird hier eher amerikanisch-prüde als Kindertheater mit „Blitz und Donner“ dargestellt. Na ja. Helene hingegen darf über sich selbst hinauswachsen. Die ideale Rolle für Anna Lisa Greb, die sich auch glänzend verkauft. Für Irritationen sorgt die schwangere Martha, wenn Isa Weiß mit aggressiven Ausbrüchen reagiert. Trotz bekannter Stimmungsschwankungen bei Schwangeren sind hier die Reaktionen oft nicht so ganz nachvollziehbar. Das ist bei Dr. Peter Schimmelpfennig, dem Arzt des Dorfes oder der Gemeinde, ganz anders. Sebastian Muskalla spielt seine Facetten sorgsam aus. Carl-Ludwig Weinknecht als Vater Egon Krause und Juliane Pempelfort als Mutter Annemarie Krause dürfen ordentlich aufdrehen, um dem Abend den nötigen skurrilen Humor zu geben.

Wem es rechtzeitig gelingt, von der Version Gerhart Hauptmanns auf das Stück von Ewald Palmetshofer umzuschalten, wird an der Inszenierung von Tom Gerber sicher seinen Spaß finden. Das bekunden auch die annähernd 70 Besucher, die nach mehr als zwei Stunden noch erschöpft, aber kräftig applaudieren.

Michael S. Zerban