Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
THIBAUT SURUGUE
(Diverse Komponisten)
Besuch am
27. Mai 2023
(Einmalige Aufführung)
Von Karl Kraus gibt es ein ebenso schönes wie strenges Memento, adressiert an seine verehrten Literatenkollegen. Es heißt, er habe es auf die Tischdecken seines bevorzugten Wiener Caféhauses geschrieben: „Denkt ans fünfte Gebot, schlagt die Zeit nicht tot!“ Damals war man noch bibelfest. Heute muss man nachschlagen. „Du sollst nicht töten!“ ist der Wortlaut. Was für die Literaten richtig ist, kann für die Komponisten nicht verkehrt sein, sind sie es doch, die in der Organisation von Zeit ihre künstlerische Berufung erkennen. Sorgsamer Umgang mit dem Kostbarsten, das wir haben, sollte eigentlich selbstverständlich sein.
Foto © O-Ton
Manchmal kommt es dann aber doch anders. Selbst wenn die besten Absichten im Spiel sind, wie man sie dem jungen, am Klavier schon so glänzend in Erscheinung getretenen Pianisten Thibaut Surugue unterstellen muss. Zugleich ist Surugue aber auch sein eigener Kurator. Auch damit will er Zeichen setzen. Sein Solorecital beim 19. Insel-Festival Hombroich eröffnet er demonstrativ mit dem Werk eines Zeitgenossen, mit den Inventions für Klavier solo des englischen Komponisten Tom Coult. Letzterer ist mit Jahrgang 1988 noch zwei Jahre jünger als Surugue, wird in England aber durchaus schon wie Kult gehandelt. Man reißt sich um ihn. Im vergangenen Jahr bringt das ehrwürdige Aldeburgh Festival seine erste Oper heraus, Frankreich spielt sie in diesem Mai nach. Und was die Klavierstücke des komponierenden britischen Jungstars angeht, versteht sich Surugue als entschiedener Botschafter. Coults Inventions spielt er, wo immer er kann, stellt sie in seinen Recitals ganz nach vorn. Was im Prinzip richtig ist. Das neue Werk nicht verstecken, nicht unsichtbar machen. Andererseits, so sympathisch diese Eröffnung ist, die Durchführung will gelernt sein. In diesem Fall gerät sie, nach ansprechendem Beginn, lang und länger. Es dehnt sich die Zeit.
Ein schöner Pfingstnachmittag auf der Raketenstation zeigt: Es ist nicht ganz ungefährlich, einen Werktitel mir nichts dir nichts aus der Schatzkammer der Klaviermusik zu entlehnen, um ihn für die eigenen Sachen zu reklamieren. Gleich hat man den Anspruch, der damit verbunden ist, mit im Gepäck. Keineswegs ist Inventions ja nur irgendein Name. Dahinter stehen, Coult weiß das auch, man kann es auf seiner Homepage nachlesen, Bachs zweistimmige Inventionen, Repertoirestücke, Musterbeispiele für ein striktes Zusammenspiel von thematischer Gestalt und Verarbeitung. Haargenau an diesem Anspruch scheitern Coults Inventions. Bereits die resolut hingesetzten Intervalle in der linken Hand zu Beginn finden kein Echo. Die Rechte ist beschäftigt mit glitzernden Läufen in den oberen Registern. Dekor, nicht mehr. Und schon in der zweiten Invention, in Stomp, gibt es unüberhörbare Anleihen bei den Etüden Ligetis. Je weiter sich das fortspinnt, desto weiter entfernt sich der Komponist von der eigentlichen Aufgabe, mit mehreren Stimmen „wohl zu verfahren“, wie der alte Bach das nennt. Irgendwann fallen die Hüllen. Die Nummern heißen dann Sing oder Swing und klingen auch so. Und auf einmal schaut Kraus von oben herab, hebt den Zeigefinger.
Foto © O-Ton
Nicht viel anders im Programmpunkt zwei. Noch einmal sondiert Surugue die Lage auf der Insel, lässt den 20-Minuten-Zyklus von Coults Landsmann George Benjamin folgen: Shadowlines – six canonic preludes. Auch hier, im Wesentlichen, Koketterie mit Vorbildern. Stilistisch mäandert dieses bedeutungsschwanger auftretende Sixpack irgendwo zwischen missverstandenem Ligeti und freischwebendem Minimalismus, tändelt in seinem tempestoso, freely und flowing zwischen nichts und fast nichts. Kanonisch? Britischer Humor ist bekanntlich anders.
Genießen lässt sich die exzellente Pianistik von Thibaut Surugue erst im darauf folgenden, ungleich kürzeren, freilich umso konziseren, substanzielleren Teil. Das Tagebuch für Klavier, das work in progress von Georg Kröll, dem ebenso sehr Kölner wie Hombroicher Komponisten, präsentiert Surugue in einer kleinen, feinen Auswahl. Auswahlprinzip sind die wechselseitigen Verbeugungen, die sich Insel-Komponisten angewöhnt haben, insbesondere Kröll und György Kurtag, die Freunde sind. Hommage-Kompositionen wie ja überhaupt Hombroich von seiner Gründung her, wie das sagenumwobene Kythera, eine Freundschaftsinsel ist. Wobei diese, die Freundschaft, gepflegt sein will. Eine ehrenvolle Aufgabe, für die Surugue die ganze klavieristische Exzellenz beisteuert, die ihm zu Gebote steht. Extrem breit die Palette seiner dynamischen Möglichkeiten. Klavierspielen, die sinnliche Dimension des Geistigen. Das vermittelt sich. Dann das krönende Finale. Surugue spielt endlich jene Trumpfkarte, die seinem Recital insgeheim Pate steht. Strahlend kommen zwei Nummern aus den Études pour piano von György Ligeti. Die Kurtag-Verbeugung En suspense, ganz am Ende dann, Hommage an Mauricio Kagel, Vertige. Drei Minuten, die alles versöhnen. Als wir raustreten, scheint die Sonne.
Georg Beck