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Aktuelle Aufführungen

Von ganz weit weg wär schön

REQUIEM OP. 9
(Maurice Duruflé et al.)

Besuch am
1. November 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Quirinusmünster Neuss

Allerheiligen ist ein großartiger Feiertag, so er denn einer ist. Da hat die Kirche mal rational gedacht. Wir haben so viele Heilige, wenn wir die alle einzeln abfeiern wollen, sind wir bis ans Ende aller Tage beschäftigt. Das waschen wir an einem Tag ab. Tatsächlich entstand so der Gedenktag aller Heiligen bereits im vierten Jahrhundert. Also ein Tag, an dem richtig Party ist? Weit gefehlt. Mit fortschreitender Säkularisierung gibt es den kirchlichen Feiertag nicht mehr. Wo es ihn noch gibt, ist er mit Sanktionen behaftet. Sportveranstaltungen sind verboten, Musik darf nicht vor 18 Uhr abends gespielt werden, all das ist nahezu von Stadt zu Stadt verschieden. In vielen Gegenden besuchen die Menschen Friedhöfe, um Kerzen für die Verstorbenen auf die Gräber zu stellen. Eine Liturgie ist für diesen Tag nicht vorgesehen. Zwar gibt es Musik, die sich mit Allerheiligen befasst, aber es gibt keine vorgeschriebene Musik für diesen Tag.

Elmar Lehnen – Foto © O-Ton

Joachim Neugart ist Kantor am Quirinusmünster. Er ist bekannt dafür, dass er ungewöhnliche Konzertprogramme anbietet – und dass er gern eine eigene Dramaturgie entwickelt, auch auf die Gefahr hin, dass es mal nicht so funktioniert wie vorgestellt. An diesem Feiertag bietet er das Requiem op. 9 von Maurice Duruflé an. Bevor es im halbwegs gut besuchten Quirinusmünster dazu kommt, stehen Motetten von David Briggs, William Harris, Allan Bevan und Colin Mawby auf dem Abendzettel. Ach, möchte man denken, warum kann man nicht endlich mal einen Abend erleben, an dem die volle Konzentration auf einem Werk liegt, und dann ist es gut? Müssen es immer die „Beigaben“ sein, um den Abend in die Länge zu ziehen und den Eintrittspreis so zu rechtfertigen? Nun, auch wenn das Gang und gäbe im Konzertbetrieb ist, trifft es hier nicht zu. Die Motetten dienen dazu, dem Publikum die heute teilnehmenden Mitglieder des Kammerchors Capella Quirina Neuss zu zeigen. 18 Frauen und 12 Männer stellen sich vor dem Altarraum auf, um die englischsprachigen Motetten aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ohne instrumentelle Begleitung zu singen. Nach David Briggs‘ I will lift up erfolgt wie nach jedem Kirchengesang, nichts anderes bedeutet der Begriff Motette, ein kurzer Stellungswechsel, ehe Faire is the Heaven von William Harris, Peace von Allan Bevan und Alleluja, Christus resurrexit von Colin Mawby erklingen. Das sieht lustig aus, finden auch die Choristen, ist aber der Perfektion im Klangbild geschuldet.

Nach etwa 20 Minuten verabschieden sich die Chormitglieder aus der Sichtbarkeit und begeben sich in die Orgelempore. Gelegenheit für Elmar Lehnen, unter anderem Organist an der Marienbasilika zu Kevelaer, sich mit einer Improvisation über Dies irae, Dies illa – Jener Tag wird ein Tag des Zorns sein – einzuführen. In knapp zehn Minuten zaubert er gewaltige, düstere Stimmungsbilder, die jedem Horrorfilm zur Ehre gereichten. Ganz wunderbar als Intermezzo und Einstimmung in das Hauptwerk des Abends. In erhabenem Zorn endet das Zwischenspiel.

Joachim Neugart – Foto © O-Ton

Das Requiem op. 9 schuf Maurice Duruflé erstmalig 1941 im Auftrag des Vichy-Regimes in Frankreich als Fassung für Mezzosopran- und Bariton-Soli, gemischten Chor, Orchester und Orgel. Sieben Jahre später entstand die Fassung für Mezzosopran, Chor und Orgel. Dass sich diese Vertonung der lateinischen Totenmesse an den Gregorianischen Gesängen orientiert, ohne auf die grundierende oder kontrastierende instrumentelle Begleitung zu verzichten, ist sicher eine interessante Idee, die man aber mögen muss. Höhepunkte wie bei anderen Komponisten findet man hier nicht, auch wenn man auf feine Kleinigkeiten nicht ganz verzichten muss. So hat Neugart das Bariton-Solo im Offertorium belassen, das Sebastian Klein ganz wunderbar interpretiert. Eine ganz besonders schöne Stelle arbeitet Lehnen im Sanctus heraus, wenn von der Orgel sanfte Wellen hörbar werden. Und auch das Pie Jesu wird von Mezzosopranistin Angela Froemer eindrucksvoll dargeboten.

Die Idee Neugarts, den Chor auf die Orgelempore zu holen, ist nachvollziehbar. Gewünscht war sicher der Hall-Effekt, der ja bei den Gregorianischen Gesängen einen gut Teil der Wirkung ausmacht. Und das könnte das Klangbild hier noch einmal deutlich heben. Aber ob es an den Planen im Mittelschiff liegt, die die Akustik möglicherweise verkürzen oder am doch eher kleinen Chor, lässt sich kaum ermessen. Jedenfalls kommen Teile des Gesangs immer wieder recht dumpf beim Publikum an. So wie beim Libera me, das bei Duruflé ohnehin jedes Flehen vermissen lässt, verliert die Wirkung „von ganz weit weg“, also ähnlich, wie man es beispielsweise aus der Sixtinischen Kapelle kennt, erheblich. Und das liegt eindeutig nicht am Gesang des Chors, der sich auf der Empore redlich engagiert.

Auch der Effekt, dass das Publikum nun auf einen leeren Altarraum schaut, ist zweischneidig. Man kann argumentieren, dass es den meditativen Genuss erhöht, weil nun nichts mehr von der Musik ablenkt. Es ist aber sicher auch nicht falsch zu behaupten, dass dadurch der Live-Charakter mindestens deutlich geschmälert wird. Teile des Publikums sitzen mit geschlossenen Augen da, aber ein Dormitorium will man ja eigentlich auch nicht. Was bleibt, ist der Eindruck eines ungewöhnlichen Abends, der auch Mut zeigt. Und das Publikum bedankt sich anschließend, jetzt zum ersten Mal mit Blick auf die Empore, auf der sich im Gegenlicht Schattenrisse verbeugen.

Michael S. Zerban