Kulturmagazin mit Charakter
Aktuelle Aufführungen
POWER
(Verena Güntner)
Besuch am
2. Oktober 2022
(Premiere am 10. September 2022)
Belobigen die Rezensenten der so genannten Leitmedien Bücher neuerdings danach, wie weit sie an der Oberfläche schwimmen? Fast möchte man den Eindruck gewinnen. Ein Beispiel dafür ist ein Buch, das 2020 erschienen ist. Da konnte man in neun Rezensionen lesen, dass es dem Buch an Substanz fehle, der Spannungsmoment verfehlt werde und man auch eigentlich gar nicht wisse, was der Roman sagen wolle. Aber alle neun Rezensenten sprechen eine Leseempfehlung aus. Die Rede ist von Verena Güntners 200-seitigem Roman Power, der sogar einen Preis erhielt.
Um die Geschichte noch banaler zu gestalten, bedarf es nur noch einer Bühnenfassung. Ekat Cordes und Eva Weiders haben sich für das Rheinische Landestheater Neuss daran versucht. Der Hund Power ist entlaufen. Hitschke, seine Besitzerin, beauftragt das Mädchen Kerze, den Hund wiederzufinden. Welche Geister Kerze verfolgen, bleibt unbenannt. Aber sicher ist: Was Kerze verspricht, hält sie. Hitschke, längst Außenseiterin in dem kleinen Dorf, in dem die Handlung spielt, ist bereits von ihrem Mann verlassen worden. Umso wichtiger ist ihr, Power wiederzubekommen. Holzschnittartige Figuren begleiten die Suche nach dem Hund. Schließlich zieht sich Kerze in den Wald zurück, um sich ganz in den Hund einzufühlen. Die Kinder des Dorfes folgen ihr. Dort verwildern sie unter dem strengen Regiment von Kerze. Währenddessen kocht die Wut unter den Eltern im Dorf wegen der verlorenen Kinder hoch und entlädt sich an der Hundebesitzerin. Schließlich findet ein Junge – und nicht etwa Kerze, die damit im Grunde ihr Versprechen nicht einlöst, aber das ist zu diesem Zeitpunkt auch schon egal – den Hund. Tot. Er wird ins Dorf zurückgetragen, Kerzes Auftrag ist erfüllt, die Kinder kehren in ihre Elternhäuser zurück. Hitschke verlässt den Ort, und Kerze wird, warum auch immer, von den Geistern verlassen.
Foto © Marco Piecuch
Es gibt eine Menge Sollbruchstellen, an denen aus der Geschichte Horror, ein kritischer Gesellschaftsroman oder gar eine Parabel hätte werden können. Nichts dergleichen geschieht. Die Handlung bleibt so platt, wie sie ist. Daran ändern auch Bühnenbild und Kostüme von Anike Sedello nichts. Ihr Faible für Blautöne steht im Gegensatz zur Symbolik des Abends. Von Hoffnung ist nichts zu spüren. Das Bühnenbild mit seinen Miniaturhäusern, die erst in Dorfform, später als „Trutzburg“ im Wald, der aus heruntergelassenen, baumähnlichen Gegenständen besteht, erschwert die Vorstellung, dass es sich bei diesem Stück um Theater für Erwachsene handelt.
Unangenehm gestaltet sich die akustische Kulisse des Abends. Möglicherweise müssen die Darsteller mit einer falsch ausgerichteten Mikrofonierung auftreten, um sich in der Lautstärke an die Musik anzugleichen. Bei der Musik hat sich Cordes für die Verfremdung einiger bekannter Songs wie Tainted Love entschieden. Die Schauspieler geben derweil ihr Bestes, um aus dem langweiligen, dialogarmen Stoff so etwas wie Theater zu gestalten. Anna Sonnenschein verkörpert Kerze glaubhaft, so weit das möglich ist. Aus Hitschke macht Hergard Engert eine Frau, die man letztlich nicht mal mehr bemitleiden kann, weil sie sich ohne jede Gegenwehr in ihr Schicksal ergibt. Wenn sich die Wut der Dorfbewohner gegen sie in einer Prügel- und Trittszene entlädt, wird es einer Besucherin zu viel, die sich lautstark nicht nur darüber beschwert. Peter Waros, Johannes Bauer, Philippe Ledun, Tim-Fabian Hoffmann und nicht zuletzt Fenna Benetz treten in Doppelrollen auf, die allesamt sauber gespielt sind, aber keinen bleibenden Eindruck hinterlassen. Sechs Kinder stellen die Dorfjugend überwiegend in Laufspielen dar, was sie ganz prima einstudiert haben. Im Ergebnis reicht das nicht, um einen Eindruck zu schaffen, der länger als bis zum Ausgang des Theaters hält.
Eins steht fest. Wenn Verdummung und Banalisierung wie eine riesige Tsunami-Welle auch in den Theatern auf uns zu rollt, wird es verdammt schwer, zwischendurch aufzutauchen und nach Luft zu schnappen. Davon haben die Besucher heute Abend schon mal eine Vorahnung bekommen. Die sind erfreulich zahlreich erschienen – knapp mehr als die Hälfte des Theaters ist gefüllt; 50 Prozent ist das neue ausverkauft, stand neulich irgendwo zu lesen – und bedanken sich bei den Akteuren mit artigem Applaus.
Michael S. Zerban