O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © O-Ton

Aktuelle Aufführungen

Neujahrsgruß in die Welt

NEUJAHRSKONZERT
(Diverse Komponisten)

Besuch am
30. Januar 2021
(Generalprobe)

 

Deutsche Kammerakademie Neuss in der Stadthalle Neuss

In früheren Jahren war es üblich, dass das Sinfonieorchester einer Stadt zu einem Neujahrskonzert einlud. Häufig geschah dies in Form einer Gala, so dass gleich zu Beginn des Jahres mal ein Schwung Geld in die Kassen des Orchesters gespült wurde und die Haute volée der Stadt Gesicht zeigen konnte. Diensteifrig berichteten die Lokalzeitungen mit Bild von dem Ereignis. Gern nutzten der Bürgermeister, der Vorsitzende des Freundeskreises des Orchesters, der Sparkassendirektor und andere bedeutende Persönlichkeiten der Stadtgesellschaft die Gelegenheit für ein Grußwort. Dann bekamen die Gäste von Operetten- bis Walzerseligkeit viel „Schmissiges“ geboten, ehe sie gutgelaunt in ein hoffentlich erfreuliches Jahr entlassen wurden. Die Zeiten ändern sich. Und manchmal nicht nur zum Schlechteren.

Die Stadt Neuss hat inzwischen so etwas wie ein Problem. Denn sie pflegt – wie viele andere Städte auch, aber vielleicht ein bisschen intensiver – Städtepartnerschaften in der ganzen Welt. Derzeit sind es fünf, die sechste ist so gut wie in trockenen Tüchern. Und eigentlich liefe alles rund und sehr engagiert. Wenn nicht gerade sämtliche Kontakte enorm erschwert wären. Schüleraustausch, Delegationen, die sich gegenseitig besuchen, um nur zwei wichtige Beispiele zu nennen, fallen aus. Wirtschaftliche Kontakte beschränken sich auf Schriftverkehr. Es bleibt derzeit bei Absichtserklärungen und Grußbotschaften. Wer sich einmal mit dem Thema auseinandergesetzt hat, weiß, dass dahinter ein riesiger Aufwand steht. Der sich allerdings auch lohnt, wenn man den Bürgern der eigenen Stadt Weltoffenheit und internationale Begegnungen wenn nicht Freundschaften erleichtern will. Und so ist derzeit jede Überlegung willkommen, die auch in diesen Tagen der Kontaktabstinenz wenigstens Zeichen der Verbundenheit setzen kann.

Chefdirigent Christoph Koncz – Foto © O-Ton

Da kommt die Deutsche Kammerakademie Neuss gerade recht. Und das unter schwierigsten Bedingungen. Dem Publikum ist der Zutritt zur Stadthalle in Neuss verwehrt. Die Musiker müssen sich erheblichen Corona-Maßnahmen unterziehen, um überhaupt gemeinsam spielen zu dürfen. Alle Widrigkeiten halten sie nicht davon ab, ein Neujahrskonzert zu planen, das als Livestream übertragen werden kann und ein Programm anbietet, das Überraschungen bietet. Auch dann, wenn es keine Einnahmen bietet, sondern von der örtlichen Sparkasse unterstützt werden muss. Aber die Idee hinter dem Konzert überzeugt einfach alle.

Der Clou des Programms: Neben den „Feuerwerksklassikern“ gibt es aus jedem Land, in dem eine Städtepartnerschaft existiert, ein Werk. Und die Städte reagieren darauf mit einer Grußbotschaft, die während des Livestreams am 31. Januar ab elf Uhr morgens auf die hinter dem Orchester heruntergelassene Leinwand projiziert wird. Das bleibt während der Probe ebenso aus wie die Moderation des Konzerts, die für die Live-Übertragung vorgesehen ist. Auch ansonsten geht es eher entspannt zu. In privater, legerer Kleidung sitzen die Musiker in den verlangten Abständen zueinander. Da ist die Bühne mit 47 Musikern schnell gefüllt, die konzentriert und spielfreudig den Anweisungen ihres Chefdirigenten Christoph Koncz folgen.

Obwohl oder gerade, weil die Stuhlreihen und Tribünen in der Stadthalle geräumt sind, entfaltet sich ein großartiger Klang, dem Koncz mit Verve zur äußersten Wirkung verhilft. In der Probe wird noch haargenau jedem Ton nachgehört, werden Feinheiten austariert, die einem Hörer kaum auffallen. Nach der Ouvertüre der Fledermaus kommt im ersten Teil gleich der Blumenwalzer aus dem Nussknacker von Tschaikowsky. Da dürften die ersten Zuschauer schon einmal verzückt sein. Ein Satz aus den sinfonischen Tänzen von Fazil Say schickt Grüße in die Türkei, wo Zuschauer aus Bolu und Nevşehir erwartet werden. Damit wird auch ein Zeichen gesetzt, zählt Say doch zu den regimekritischen Künstlern. Sehr gut. Von Jakov Gotovac erklingt mit Kolo aus der 1935 entstandenen Oper Ero s onogasvijeta – Ero der Schelm – und grüßt damit die Bürger der kroatischen Stadt Rijeka. Furioso geht es weiter mit dem Galopp von Johann Strauß I nach Motiven von Franz Liszt.

Für die zweite Hälfte des Programms gibt es nach der Ouvertüre aus Candide von Leonard Bernstein als Gruß in das amerikanische Saint Paul einen ganz besonderen Leckerbissen. Der Stadt Châlons-en-Champagne ist das Stück Le bœuf sur le toit von Darius Milhaud gewidmet. Dazu hat die Deutsche Kammerakademie Neuss den Geiger Emmanuel Tjeknavorian eingeladen, der mit großem Spaß und größter Gelassenheit auftritt. Mit der Fanfare to Israel von Paul Ben-Haim aus dem Jahr 1950 begrüßt Neuss die künftige Partnerstadt Herzliya in Israel. Mit dem Walzer Frühlingsstimmen und der Polka Éljen a Magyar von Johann Strauß II gelingt die geschmeidige Kurve zum konservativen Programm eines Neujahrskonzerts, so dass auch konservative Zuschauer nichts vermissen werden.

Am Ende der Probe macht sich Euphorie breit. Die Akustik des Saals berauscht, die Musiker zeigen sich beglückt, weil sie spielen dürfen und das Stadtwappen Neuss‘, das hinter den Musikern auf der Leinwand glänzt, wird in die Welt hinausgetragen. Da ist die Hoffnung groß, dass sich die überaus positive Stimmung im Konzertsaal auf die Welt überträgt. Und wer den Liveauftritt am Sonntagmorgen verpasst, weil strahlender Sonnenschein eher an die frische Luft lockt, kann das Ereignis später noch als Video on Demand genießen.

Michael S. Zerban

Ein paar fotografische Eindrücke von der Generalprobe finden Sie, wenn Sie hier klicken.